0
Trüby liest

Trüby liest: Bücher zur „europäischen Stadt“

von Stephan Trüby

Teil 2: Über die „europäische Stadt“ – ein in die Jahre gekommenes Leitbild im Kontext von Migration und sozialen Bewegungen anhand ausgewählter jüngerer Publikationen

Der urbanistische Diskurs um die „Stadtbaukunst“ hat in Deutschland und darüber hinaus jahrzehntelang bei Camillo Sitte seinen theoretischen Bezugspunkt gefunden. In den letzten Jahren kamen als Referenzwerke, bedingt durch Neuauflagen wie diejenigen Matthias Castorphs, auch zunehmend Schriften von Karl Henrici, Cornelius Gurlitt oder Theodor Fischer hinzu – was insbesondere im Falle von Henrici auf eine Normalisierung völkischer Positionen im Stadtbaukunst-Diskurs hinausläuft. „Stadtbaukunst“ bildet, wie darzulegen sein wird, den Nukleus einer sich ästhetizistisch gerierenden, de facto aber politischen Agitation unter dem Banner der „europäischen Stadt“, die den deutschen Urbanismusdiskurs seit der Wiedervereinigung prägte – denkt man an die „Leipzig-Charta“ von 2007 und ihre Fortschreibung als „Neue Leipzig-Charta“ (2020) scheint sie ihn stärker denn je zu prägen. Wenngleich spätestens seit den 1980er-Jahren im französischen Sprachraum – insbesondere in Brüssel und Luxemburg1 – die „ville européenne“ ein stehender Begriff der Städtebaudiskussion ist, machte der Begriff in den letzten Jahrzehnten vor allem in Deutschland Karriere. Nicht zuletzt wurden die beiden Leipzig-Chartas von der Bundesrepublik aus iniitiert. Während in London „global cities“ diskutiert wurden2 und in Paris die „villes dans la mondialisation“,3 kam es in Deutschland zu einer Provinzialisierung des Städtebaudiskurses, denn: In den Debatten meinte man mit „europäische Städte“ vor allem deutsche Städte. Dies soll im Folgenden besonders am Beispiel des Frankfurter Architekten Christoph Mäckler deutlich werden, der mit dem „Deutschen Institut für Stadtbaukunst“ und dem Handbuch für Stadtbaukunst (2022) den offiziellen deutschen Stadtdiskurs prägt. Anschließend sei ein Blick auf die wohl konsistenteste Opposition zum Konzept „Stadtbaukunst“ geworfen, nämlich die im Geiste von Henri Lefebvre agierenden „Recht auf Stadt“-Bewegungen, denen Elodie Vittu ihr Buch Recht auf Stadt – Von einem theoretischen Konzept aus Frankreich zu „Recht auf Stadt“-Bewegungen in Lateinamerika und Europa (2021) gewidmet hat. Diesen Büchern vorangestellt sei zum einen eine Analyse eines jüngeren Bandes, der das reaktionäre Unbewusste des Konzepts „Europäischen Stadt“ herausarbeitet, nämlich Esra Akcans Open Architecture – Migration, Citizenship and the Urban Renewal of Berlin-Kreuzberg by IBA 1984/87 (2018), und zum anderen ein Rückblick auf die wohl am stärksten rezipierte deutschsprachige Publikation zum Thema, nämlich den von Walter Siebel herausgegebenen Sammelband Die europäische Stadt (2004).

Abb. 1

Rückblick auf bildorientierte Ratlosigkeit: Walter Siebel (Hrsg.): Die europäische Stadt (2004)

Siebels Buch, das Hartmut Häußermann (1943–2011), dem deutschen Soziologen und Stadtforscher am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin anlässlich dessen 60. Geburtstag gewidmet ist,4 versammelt so gut wie alle seinerzeit tonangebenden Stimmen der deutschen Stadtforschung, Stadtsoziologie und Stadtgeografie [Abb. 1]. So berichtet Thomas Sieverts von der „Kultivierung von Suburbia“ oder Marianne Rodenstein von „Lokale[r] Politik und Hochhausentwicklung“ am Beispiel von Frankfurt am Main. Zwar sind in dem Band auch nicht-deutsche Positionen vertreten, doch weder in Enzo Mingiones Artikel (über „Soziale Ausgrenzung und lokale Fürsorge in europäischen Städten“) noch in den Texten von Frank Moulaert und Jacques Nussbaumer (über „Die Ökonomie der europäischen Großstadt“), Sako Musterd (über „Die europäische Stadt als Ort der Integration? Das Beispiel Amsterdam“) oder Saskia Sassen („Die Verflechtungen unter der Oberfläche der fragmentierten Stadt“) fällt der Begriff „europäische Stadt“. Marco Venturi vom Istituto Universitario di Architettura di Venezia (IUAV) verwendet das Wort von der „europäischen Stadt“ zwar, aber nicht, um es als starken, abgrenzenden Begriff zu implementieren, sondern um „Die posteuropäische Stadt in Europa“ zu skizzieren. Nur Peter Marcuse (1928–2022), der deutsch-US-amerikanische Anwalt, langjährige Professor für Stadtplanung an der Columbia University in New York und Sohn von Herbert Marcuse, fragt mit geradezu ängstlich klingendem Unterton: „Verschwindet die europäische Stadt in einem allgemeinen Typus der globalisierten Stadt?“ Holzschnittartig zählt er die Charakteristika der europäischen Stadtgestalt auf – „historischen, niedrig-gebauten Kern (mit Ausnahme von alten religiösen und/oder Staatsgebäuden), zentrale öffentliche Plätze mit öffentlicher Nutzung, hinsichtlich Nutzung und Einkommen gemischte Wohnquartiere, scharfe Stadtgrenzen, eine dichte Bebauung und Besiedelung sowie ein enggestricktes öffentliches Transportsystem“5 –, um sie mit der amerikanisch geprägten Global City zu kontrastieren, die wie folgt beschrieben wird: „Konzentration von Bürotürmen in einem Central Business District, Gentrifizierung der angrenzenden älteren Wohnquartiere, eine Vierteilung der gesamten Stadt entlang einer neuen Konfiguration von Klasse und Rasse.“6 Diese Spaltungen, so Marcuse, „werden verstärkt durch die räumliche Trennung dieser Gruppen bis hin zur Entwicklung von Zitadellen, Enklaven und Ghettos.“7 Dass Ghettos eine europäische Erfindung sind, erwähnt Marcuse nicht, und auch sonst wird sein recht empiriefreier Text, dessen allzu generalisierende Aussagen sich an Beispielen wie Bologna8 oder Washington D.C.9 blamieren, vor allem von überforcierten Polaritäten dominiert.

            Diese Polaritäten durchziehen auch die Einleitung von Walter Siebel, der die „1 000 Jahre“ alte Geschichte der „europäischen Stadt“ als einen „abweichenden Fall“ vorzustellen versucht: „Was sich seit dem elften Jahrhundert in dem kleinen Anhängsel an die asiatische Landmasse, in Europa, als Stadt herausgebildet hat, ist eine sehr junge und eine sehr besondere Formation des Urbanen.“10 Siebel schlägt fünf Merkmale der europäischen Stadt vor: erstens die „Präsenz einer vormodernen Geschichte im Alltag des Städters“;11 zweitens das „Versprechen, als Städter sich aus beengten politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnissen befreien zu können“;12 drittens das Potential einer „besonderen, eben urbanen Lebensweise, die den Stadtbewohner vom Landbewohner unterscheidet“;13 viertens die Gestalteigenschaften von „Zentralität, Größe, Dichte und Mischung“;14 und fünftens die Qualität der „sozialstaatlich regulierte[n] Stadt“.15 Dass alle diese Zuschreibungen keineswegs eine Eigenart Europas darstellen und der Definitionsversuch sich einem im wahrsten Sinne des Wortes weltfremden Exzeptionalismus verdankt, ahnt Siebel offenbar selbst, wenn er in einem Fragezeichen hinterlassenden Disclaimer schreibt: „Keines dieser Merkmale kann für sich genommen eine Besonderheit der europäischen Stadt begründen, denn keines benennt etwas, das einzig die europäische Stadt charakterisieren würde. Für jedes finden sich Beispiele außerhalb Europas. Auch findet sich nicht jedes Merkmal gleichermaßen in jeder Stadt Europas. Aber in ihrer Summe beschreiben die fünf Merkmale einen Idealtypus von Stadt, der nur so auf die europäische Stadt zutrifft.“16 Man könnte auch von einer Autosuggestion, ja Selbsthalluzination einer ganzen Wissenschaftssparte sprechen, die immerfort von der Ausnahme der „europäischen Stadt“ sprechen will, und dann aber nie die komparatistische Kärrnerarbeit einer historisch informierten transnationalen Stadtforschung liefert.

            Warum wird, wenn es sie jenseits einer banalen kontinentalen Verortung offenkundig nicht gibt, dennoch immerfort von der „europäischen Stadt“ gesprochen, vor allem in Deutschland? Die Antwort lautet: weil sie eine höchst lukrative Hohlvokabel ist, die als Geschäftsmodell für Stadtplaner*innen und Stadtsoziolog*innen im Dialog mit Politik, Verwaltung und künftigen Bewohner*innen gut funktioniert. Das wird insbesondere in Johann Jessens Beitrag mit dem Titel „Europäische Stadt als Bausteinkasten für die Städtebaupraxis – die neuen Stadteile“ deutlich. Jessen, der sich den Begriff der „europäischen Stadt“ zu eigen macht, thematisiert darin die zentrale Rolle der Berliner Internationalen Bauausstellung IBA 1984/1987, mit der zum ersten Mal die Rückkehr zu einer „europäischen Stadt“ „programmatisch überhöht wurde“,17 und führt aus: „Die 1990er-Jahre bescherten dem Städtebau eine überraschende Leitbildrenaissance: die europäische Stadt, die die Stadtvorstellung der internationalen funktionalistischen Moderne ablöste. Die 1990er-Jahre brachten gleichzeitig die überraschende Renaissance einer städtebaulichen Aufgabe, die man mit der Krise der Großsiedlungen der 1960er- und 1970er-Jahre ebenfalls als erledigt angesehen hatte: den Bau großer Stadterweiterungen.“18 Als Beispiele dieser „europäischen Städte“ nennt der Autor Karow-Nord in Berlin-Pankow, Falkenhöh in Falkensee, Potsdam-Kirchsteigfeld, Allermöhe-West in Hamburg, Kronsberg in Hannover, München-Riem, Freiburg-Rieselfeld oder Scharnhäuser Park in Ostfildern.19 Im Unterschied zu den Großsiedlungen der 1960er- und 1970er-Jahre West und den Plattensiedlungen Ost lobt Jessen den „Kompromisscharakter der Stadterweiterungen“, ihre „nachträglichen Anpassungs- und Korrekturmöglichkeiten, die aus der zeitlichen, baulich-technischen, ökonomischen und politischen Öffnung der Planung resultieren“.20 Sein Schlusssatz decouvriert unfreiwillig, was das geheime Movens der deutschen Obsession mit der „europäischen Stadt“ meint, nämlich bildorientierte Ratlosigkeit: „In dieser Perspektive könnte man die normative Orientierung der Praxis an der europäischen Stadt nicht als den bloßen Austausch eines alten durch ein neues Leitbild ohne weitere Folgen für die Praxis deuten, sondern als Ausdruck kollektiver Lernprozesse einer Disziplin – mögen diese auch noch so zaghaft und gefährdet sein.“21

Abb. 2

Beschreibung des strukturellen Rassismus: Esra Akcan: Open Architecture – Migration, Citizenship and the Urban Renewal of Berlin-Kreuzberg by IBA 1984/87 (2018)

Dass das Konzept der „europäischen Stadt“ nicht nur wissenschaftlich kaum haltbar ist, sondern auch eine xenophobe Kehrseite hat, wird in Esra Akcans Buch Open Architecture: Migration, Citizenship and the Urban Renewal of Berlin-Kreuzberg by IBA 1984/87 von 2018 deutlich [Abb. 2]. Die türkisch-amerikanische Architektur-Professorin und Direktorin für Europäische Studien am Einaudi Center for International Studies der Cornell University präsentiert darin ein faszinierendes Panorama der architektonisch-politischen Situation in der Zeit vor der deutschen Wiedervereinigung, und zwar am Beispiel der von Josef Paul Kleihues dirigierten IBA Neu sowie der von Hardt-Waltherr Hämer verantworteten IBA Alt. Akcan entfaltet in ihrem Band einerseits eine Art „offizielle“ Geschichte der IBA und ihres aus heutiger Sicht geradezu unglaublichen internationalen Aufgebots an Stars, die öffentlich geförderten Sozialwohnungsbau in der Mauerstadt abzuliefern hatten; andererseits spiegelt sie dies in einer „inoffiziellen“ Oral-History türkischer Beheimatungsversuche in Berlin.22 Diese im Grunde sehr naheliegende Forschungsperspektive – sechs der neun IBA-Areale waren in Kreuzberg verortet – hat überraschenderweise vor Akcan so noch niemand eingenommen. Kleihues schneidet bei ihr gar nicht gut ab: „[…] the autonomous architecture that Kleihues defended was a reflection of the ideology that denied the possibility of Germany becoming a country of immigrants.“23 Auch einer der wichtigsten Architekten aus dem IBA-Neu-Team von Kleihues, nämlich Rob Krier, muss beträchtlich Federn lassen: Akcan wirft ihm vor, mit seiner Rede von der „Europäischen Stadt“ de facto Ausschlüsse zu vollziehen.24 Zwar entwarf Krier für seinen Block 28 in der Berliner Ritterstraße „typisch türkische Häuser“ mit zentralem sofa, beschäftigte eine Zeitlang zwei türkische Angestellte und einen Doktoranden, der sich mit ottomanischen Häusern beschäftigte,25 doch stünde er für einen „essentialist link between nation and form“.26

Im Gegensatz zur IBA Neu, die – Ausnahmen wie das Checkpoint-Charlie-Projekt von OMA oder die John-Hejduk-Häuser in der südlichen Friedrichstadt bestätigen nur die Regel – dem konservativ-eurozentrischen Leitbild der „kritischen Rekonstruktion“ einer „europäischen Stadt“ verpflichtet war (und hierfür einen Top-down-Planungsansatz verfolgte), ging es bei der IBA Alt und ihrem Ziel einer „Behutsamen Stadterneuerung“ um einen alternativen, Bottum-up-Ansatz, der dezidiert partizipationsgestützt war. Und das hieß in den Sanierungsgebieten im östlichen Kreuzberg vor allem auch: Kooperation mit türkischen Communities, die in der Gegend etwa um das Kottbusser Tor bis zu 50 Prozent der Bewohner*innen ausmachten. Die IBA Alt beschäftigte auch vier türkische Angestellte, darunter den Architekten und Stadtplaner Cihan Arın (geb. 1949),27 der von 1979 bis 1984 als „Ausländerbeauftragter“ und IBA-Fachplaner mit dem Schwerpunkt „Soziale Stadterneuerung und Partizipationsprozesse“ wirkte. Gleichzeitig war Arın bei der Alternativen Liste Berlin aktiv – der Vorgängerpartei der Grünen – und wandte sich in zahlreichen Publikationen, Artikeln und Büchern den Themen Ausländerpolitik, Wohnungsversorgung ausländischer Arbeiter und räumlicher Segregation ethnischer Minderheiten und ethnischer Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt zu. Im Zusammenhang mit der IBA ist hier vor allem die so genannte „Zuzugssperre“ zu erwähnen, die 1975 von der sozialliberalen Koalition unter dem Regierenden Bürgermeister Klaus Schütz (SPD) eingeführt wurde, um den Anteil so genannter „Ausländer“ dort zu begrenzen, wo seinerzeit 46,4 Prozent aller Immigrant*innen West-Berlins wohnten: in den Stadtgebieten Tiergarten, Wedding und Kreuzberg. Die Regelung wurde 1980 ausgesetzt und 1990 aufgehoben. In einem Interview mit Akcan erinnert sich Arın: „This was a very authoritarian and racist approach. If the intention was to provide the even distribution of the city land among the population, then they should have passed moving bans on the rich and on the German citizens who received housing subsidies. [The ban] was unconstitutional.“28 Arın, so Akcan, „often criticizes IBA as the outcome of ‚authoritarian social-liberal politics‘ and advocates the work of the IBA Altbau team as a subversive intervention. He sees the division between the Neubau and Altbau sections as an ‚opportunistic duality‘ that was invented to make room for the ‚conservative, right-leaning‘ politics and aesthetic choice of Kleihues, as opposed to the ‚participatory, progressive‘ wing of urban renewal.“29

Abb. 3: Block 1, Architekt: O. M. Ungers / Foto: Gunnar Klack CC BY-SA 4.0
Abb. 4: Block 121, Bonjour Tristesse, Architekt: Alvaro Siza / Foto: Georg Slickers CC BY-SA 3.0

In Akcans Buch wird der Unterschied zwischen IBA Alt und IBA Neu vor allem an den Close-Readings zweier Kreuzberger IBA-Gebäude deutlich, nämlich Oswald Mathias Ungers’ Block 1 in der Köthener Straße – Nachbarn nannten es eine Zeitlang abfällig „Asihaus“ –, und Álvaro Sizas Block 121 beim Bahnhof Schlesisches Tor, der seit einem noch während der Bauzeit aufgesprühten Graffiti allgemein als „Bonjour Tristesse“ bekannt ist [Abb. 3/4]. Während der Ungers-Bau im Rahmen der IBA Neu errichtet wurde, entstand der Siza-Bau – obwohl ein Neubau – aufgrund der Situierung inmitten eines IBA-Sanierungsgebiets im Rahmen der IBA Alt. Wie zuvor bei seiner SAAL-Sozialsiedlung Bouça II in Porto (1975–77) eingeübt, wandte Siza auch bei seinem ersten Bau außerhalb von Portugal partizipative Verfahren an – und vermochte eine reaktive Architektur zu realisieren, in der sich Beteiligte ein Stück weit wiederfanden: „Siza’s suggestions called for more tension, more discontinuity, and more juxtaposition between the existing structures and new ones.“30 Ganz anders Ungers: Er errichtete ohne jegliche Partizipation einen strengen Bau mit dunkelbrauner Hartbrandziegelverkleidung, um dessen öffentlich zugänglichen Hof, der mit einem einsamen Baum versehen wurde, 44 Wohnungen angeordnet wurden. Sie waren vor allem für migrantische Familien vorgesehen, die, bedingt durch die Zuzugssperre, in diesem Bau an der Bezirksgrenze direkt an der Mauer konzentriert wurden. Es folgten viele soziale Probleme, die durch die rigide und zugige Ruf-zur-Ordnung-Architektur, die Aneignung erschwert, noch verstärkt wurde. Im Jahre 2012 kam es auch noch zu einer schrecklichen Tat: In einer Wohnung enthauptete ein Familienvater vor den Augen der sechs Kinder seine Frau – und warf ihren Kopf in den Hof des Hauses. Akcan geht nicht so weit, dem Architekten für die sozialen Probleme eine Mitschuld zu geben, kritisiert ihn aber für seine Feier autonomer Architektur, die stolz ist auf ihre Blindheit ihnen gegenüber: „Ungers ignored his building’s role in the dicriminatory integration policies, and was explicitly cynical about social concerns and participation in architecture in the later stages of his career.“31 Akcans Buch, dem man dringend eine deutsche Übersetzung wünscht, beschreibt auf eindringliche Weise das strukturell rassistische Klima im Deutschland der 1970er- und 1980er-Jahre – und hebt sich dadurch verdienstvoll von der üblichen Happy-clappy-IBA-Literatur ab.32

Abb. 5

Institutionelle Façon für die Stadtbaukunst: Christoph Mäckler mit Birgit Roth (Hg.): Handbuch der Stadtbaukunst – Anleitung zum Entwurf von städtischen Räumen (4 Bände; 2022)

Die „europäische Stadt“, die erstmals im Rahmen der IBA 1984/1987 ideologisch unterfüttert wurde und sogleich zum Instrument gesellschaftlicher Exklusionsprozesse wurde, hat sich seither zur zentralen deutschen Sehnsuchtsvokabel vieler urbanistischen Debatten entwickelt, zunächst vor allem im Rahmen des Berliner Architekturstreits für die Fraktion um den Senatsbaudirektor Hans Stimmann, dann für das von Christoph Mäckler gegründete Deutsche Institut für Stadtbaukunst in Frankfurt am Main. Auf die problematischen Verbindungen dieses Instituts in gesellschaftlich reaktionäre Kreise – etwa zum Welt-Architekturkritiker Dankwart Guratzsch, dessen ressentimentgeladene Artikel mitunter als Initialzündungen rechtsextremistischer Hasskampagnen dienen –, hat der Verfasser an anderer Stelle hingewiesen.33 Nun legt Mäckler in Zusammenarbeit mit Birgit Roth, der Wissenschaftlichen Leiterin des Instituts, ein großes Handbuch der Stadtbaukunst vor, dessen vier Einzelbände, so der Frankfurter Architekt, den angeblich „für die europäische Stadt charakteristischen Einzelelementen Stadträume, Hofräume, Platzräume und Straßenräume“ gewidmet sind [Abb. 5].34 Die Publikation stellt die beträchtlich erweiterte Fassung eines im Auftrag des Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBSR) ab 2009 genehmigten und 2012 veröffentlichten Forschungsprojektes dar, für das sich sieben deutsche Städte, nämlich Dresden, Heidelberg, Karlsruhe, Lübeck, Ludwigsburg, Regensburg und Warendorf, ihre städtischen Räume von Mäcklers Team erklären ließen. Das Handbuch der Stadtbaukunst, so der Frankfurter Architekt, stellt einen Versuch dar, „städtische Räume zu analysieren, um sie als Anleitung zum städtebaulichen Entwurf neuer Stadtquartiere nutzen zu können. Die Auswahl ist dabei rein subjektiv und ließe sich ohne Zweifel durch viele weitere charakteristische Stadträume ergänzen.“35

            In der Tat kann die Auswahl als „subjektiv“ – um nicht zu sagen: erstaunlich – bezeichnet werden, und dies nicht nur deswegen, weil sich in der Publikation, die sich die „europäische Stadt“ groß auf die Fahnen schreibt, unter den 150 Eintragungen aus über 70 Städten kein einziges nichtdeutsches Beispiel findet. Die allermeisten Beispiele, beachtliche 29, stammen aus Berlin – aber kein einziges explizit von der IBA 1984/87, dem Mäcklers Institut mit der „europäischen Stadt“ seinen argumentativen Dreh- und Angelpunkt verdankt. Die zweitgrößte deutsche Stadt, Hamburg, ist mit 6 Eintragungen vertreten, München mit 10, Köln mit 3, Frankfurt am Main mit 10, Stuttgart mit 3, und Düsseldorf – immerhin Austragungsort der vom Institut organisierten „Konferenzen zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt“ – mit nur zwei (Carlstadt und Königsallee). Während die achtgrößte Metropole Deutschland, Leipzig, mit immerhin vier Beispielen aufwartet, wird Dortmund, die neuntgrößte Stadt (und jahrelang Mäcklers Wirkungsstätte an der Technischen Universität), mit nur einem Eintrag bedacht (Althoffstraße). Dass Duisburg gänzlich fehlt – unter den größten deutschen Städten belegt es immerhin Platz 15 –, ist vielleicht noch nachvollziehbar, aber dass das keineswegs unter komplettem Hässlichkeitsverdacht stehende Darmstadt mit seinem innerstädtischen Weltkulturerbe Mathildenhöhe völlig unberücksichtigt bleibt, erstaunt, ebenso die Absenzen Bamberg, Bayreuth, Naumburg, Paderborn, Quedlinburg, Ulm oder Würzburg, die allesamt mit UNESCO-Ehren aufwarten können. Nichtsdestotrotz feiern Mäckler und sein Team städtische Orte mit oft langer Geschichte: den Aachener Münsterplatz, die Augsburger Maximilianstraße, den Bremer Marktplatz, den Römerberg in Frankfurt am Main, mittelalterliche Blockstrukturen wie in Nürnberg am Weinmarkt oder in Regensburg entlang der Kleinen Messergasse. Den Schwerpunkt der Bände bilden dabei Beispiele aus dem 19. Jahrhundert. Diejenigen aus der Zeit der klassischen Moderne lassen sich an einer Hand abzählen: Bruno Tauts Berliner Wohnstadt Carl Legien sowie Ernst Mays Frankfurter Siedlungen Römerstadt und Bruchfeldstraße, das war’s. Karlsruhe-Dammerstock fehlt also, ebenso Stuttgart-Weißenhof. Die Gegenwartsarchitektur ist nur dann vertreten, wenn sie sich (kritischer) Rekonstruktion verdankt (Pariser Platz in Berlin) oder ein Barockzeitalter (St.-Leonhards-Garten in Braunschweig) bzw. imaginäres 19. Jahrhundert heraufbeschwört (Da-Vinci-Straße in Heidelberg).

In seinem Programmartikel „Das Bauwerk Stadt – eine Anleitung zum Entwurf“ gibt Mäckler einige Einblicke in seine regressive Utopie, zu der insbesondere die Verschleierung von Eigentumsstrukturen gehört: „Je mehr Fassaden eine Straße einfassen, desto vielfältiger und lebendiger ist ihr Aussehen. Eine kleinteilige Parzellierung fördert zunächst also prinzipiell die Vielfalt. Umgekehrt benötigt Vielfalt aber nicht unbedingt eine Parzellierung in unterschiedliches Eigentum.“36 Zwar schreibt sich Mäckler in die Stadtbaukunst-Tradition u.a. von Camillo Sitte, Theodor Fischer und Cornelius Gurlitt ein, doch in einem Aspekt bezieht er sich auch auf die konkurrierende Rationalisierungsfraktion, wenn er mit Blick auf Josef Stübbens Publikation Der Städtebau (1890), dem neunten Band des von Josef Durm, Hermann Ende, Heinrich Wagner und Eduard Schmitt herausgegebenen Handbuchs der Architektur, schreibt: „Es bedarf deshalb moderner Haustypen, die sich in die Tiefe der Grundstücke entwickeln, um damit weniger Grund und Boden zu versiegeln, sowie gleichzeitig die Ausdehnung der Straßenlängen eingrenzen und in der Vermietung unterschiedlicher Einkommensschichten Wohnraum auf einer einzigen Parzelle anbieten können.“37 Dahin will Mäckler also zurück: weg von den langen Straßenfassaden, hin zur Pseudo-Kleinteiligkeit von „Flügelhaustypen, die sich statt in die Länge in die Tiefe des Grundstücks hinein entwickeln“.38 Das Auge soll sich nicht mehr in der visuellen Repräsentation endloser Eigentumsstrukturen und ihrer „[r]ahmenlose[n] Glasfassaden“ verlieren, sondern Halt finden „zum Beispiel auf der Oberfläche eines einfachen Kratzputzes oder an Fassadengesimsen, Fensterlaibungen und Fenstersprossen“.39 Dass derlei sich aus einem gerüttelt Maß an Modernefeindlichkeit speist, wird in Passagen wie dieser klar: „Wir benötigen am Beginn des 21. Jahrhunderts keine weißen Kuben mehr, um unser Verständnis von Demokratie zu dokumentieren! Wir benötigen auch keine Glasarchitekturen! Wir leben seit über einem halben Jahrhundert in einem demokratischen Land und sollten deshalb über eine Erneuerung dieser architektonischen Haltung nachdenken.“40 Zusammengehalten wird dies alles vom Lob auf die „europäische Stadt“, die „von ihrer Schönheit und Dauerhaftigkeit“ lebe.41

Derlei mag zwar als intellektuelle Laubsägearbeit erscheinen, doch ist es Mäckler gelungen, renommierte Architekturhistoriker zu Begleit-Essays zu bewegen. Für den ersten Band Stadträume sind hier vor allem Werner Oechslin (geb. 1944), emeritierter Ordinarius für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich, sowie Thomas Will (geb. 1951), Professor für Denkmalpflege und Entwerfen an der TU Dresden, zu nennen. Ersterer ruft in seinem Aufsatz „Embellissement – Die Verschönerung der Stadt“ einen ebenso zentralen wie hierzulande ziemlich vergessenen architekturtheoretischen Begriff der französischen Aufklärung in Erinnerung. „Embellissement“ wird von Oechslin anhand der Schriften von Marc-Antoine Laugier und Pierre Patte rekapituliert, und wenig überraschend macht er deutlich, dass der Nachkriegs-CIAM-Städtebau trotz aller „Heart of the City“-Reden42 in Verschönerungsfragen eine Leerstelle aufweist. Oechslin kommt zum Schluss, dass es nun, mit der Renaissance des „embellissement“, „um die architektonische Rahmensetzung, um die konkrete bauliche Maßnahme“ gehe, „damit der öffentliche Raum von Straßen und Plätzen in adäquater Weise als Stadtquartier entstehen und in Erscheinung treten kann“.43 Auch Thomas Will stellt einen – in Deutschland nicht ganz so vergessenen – französischen Begriff der Architekturtheorie vor, um die Rede von der „europäischen Stadt“ zu substanzialisieren: das „Ensemble“. Sitte verwendete ihn bereits ausgiebig in Der Städtebau,44 und so ziemlich jedes Buch zum postmodernen Städtebau hantiert mit ihm. Doch so ganz traut Will seinem Aufwertungsversuch nicht über den Weg. In einer Fußnote bekennt er sich ganz offen zur politpropagandistischen Note, die allen Reden von der „europäischen Stadt“ zu eigen ist: „Den noch jungen Begriff will ich hier nicht diskutieren, sondern in seiner programmatischen Lesart verwenden, wie er insbesondere in der ‚Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt‘ (2007) intendiert und autorisiert ist []. Die Kritik an dieser stadtpolitischen (nicht analytischen) Lesart als verklärendes Idealbild ist verständlich, ebenso wie die angemahnte Erweiterung auf die ebenfalls europäischen Stadtmodelle der Moderne. Diese Erweiterung würde aber genau jene Differenz verwischen, auf der die Karriere des Begriffs beruht.“45

Doch wohin führen nun das „Embellissement“- und „Ensemble“-Denken bei der Anleitung zum städtebaulichen Entwerfen, das im Zentrum des Handbuchs der Stadtbaukunst steht? Zum schnöden wie vagen „Ordnungssystem“. Dieser Begriff findet sich bei fast allen Analysen in Band 1: Über den 24 Einzelanalysen, die auf einer Doppelseite immer via Luftbild und nebenstehendem Schwarzplan mit roten Erklärungslinien vorgenommen werden, stehen fast immer Titel wie „Torplätze als Ordnungssystem“ (Berlin, Friedrichstadt) zu lesen. Oder „Der städtische Hofraum als Ordnungssystem“ (Berlin, Prenzlauer Berg). Oder „Stadtpark und Allee als Ordnungssystem“ (Braunschweig, Östliches Ringgebiet). Eingeleitet wird dieser Hauptteil mit einem Stadtbaukunst-Bingo, bei dem wahllos Schwarzpläne mit Begriffen wie „Stadträume“, „Platzräume“ und „Straßenräume“ untertitelt werden. Dem vorangestellt ist ein Warm-up-Kapitel, bei dem – wieder via Luftbild plus Schwarzplan mit knappen roten Hervorhebungen – „Beispiele von Stadtstrukturen“ vorgestellt werden mit Zuschreibungen wie „Stadt am Straßenplatz“ (Landshut), „Stadt der Haustypen“ (Münster) oder „Stadt am Wegekreuz“ (Dinkelsbühl). Dies alles wirkt höchst zufällig und ohne historischen Zugriff bzw. präzises Analyseinstrumentarium erstellt: „Fast ist man gewillt zu sagen, je deutlicher sich die weißen Zwischenräume abzeichnen, desto eindeutiger werden die Zentren der Quartiere im städtischen Raum wahrgenommen.“46

Der zweite Band Hofräume wird eingeleitet von zwei Aufsätzen: „Der städtische Block“ von Wolfgang Sonne (geb. 1965), Professor für Geschichte und Theorie der Architektur an der TU Dortmund und stellvertretender Direktor des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst, sowie „Die Stadt – Formen und Konstanten“ von Alexander Pellnitz, Professor am Institut für Architektur und Städtebau der Technischen Hochschule Mittelhessen in Gießen. Sonne stellt in seinem Text so etwas wie den Dreh- und Angelpunkt der in den vier Bänden kondensierten Sehnsucht nach der „europäischen Stadt“ vor: den „städtische[n] Normalblock“ als Privatisierungsmaschine, der sich durch folgende Eigenschaften auszeichne: „Er ist in privatem Besitz im Unterschied zum ihn umgebenden öffentlichen Straßennetz. Er ist in mehrere Parzellen aufgeteilt, die unterschiedliche Eigentümer haben. Die einzelnen privaten Parzellen werden direkt durch die umgebenden öffentlichen Straßen erschlossen. Die Bebauung erfolgt durch einzelne Häuser auf den Parzellen. Die Häuser stehen am Blockrand und trennen damit den privaten vom öffentlichen Raum effektiv ab. Die Fassade des Stadthauses markiert die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit; sie wird von Privaten errichtet und gestaltet zugleich den öffentlichen Raum.“47 Pellnitz schließt daran mit einem Text an, der einen architektonischen Schnelldurchlauf von der Antike bis zur IBA 1984/1987 darstellt. Denn letztere habe die „jahrhundertalten Grundelemente der europäischen Stadt – Straße, Platz, Block und Hof – wieder ins Zentrum des städtebaulichen Entwurfs“ gerückt.48 Dieser Zug ins Generalisierende und Normalisierende, der einzelne Episoden zu so etwas wie anthropologischen Konstanten des Homo europaeus zu machen versucht, durchzieht das gesamte Handbuch-Projekt.

Im Projektteil finden sich 39 Beispiele, die, nach den fünf Kategorien Gewerbehof, Schulhof, Eingangshof, Wohnhof und Hybridhof geordnet,49 jeweils auf einer Doppelseite präsentiert werden, mit Grundriss und Schnitt, Luftaufnahme, einem Lageplan, einem Begleittext sowie der entsprechenden Geschossflächenzahl (GFZ). Letztere gibt an, wie viele Quadratmeter Geschossfläche je Quadratmeter Grundstücksfläche zulässig sind. Die Argumentation des Bandes läuft auf die nur leichte Übertreibung „je dichter, desto besser“ hinaus. Über Alfred Messels „Reformblock“ in der Berliner Kochhannstraße ist etwa zu lesen: „Das Beispiel zeigt, wie der Hof durch den Entfall rückwärtiger Anbauten an die städtischen Häuser in seiner Fläche zu groß wird und dadurch eine gewisse Anonymität entwickelt. Der einzelne, von Flügelbauten eingefasste und einem jeden Haus individuell zugeordnete Hofraum bietet dagegen seinen Bewohnern Identität und verfügt zudem über eine bessere soziale Kontrolle. Obwohl eine klare Trennung zum öffentlichen Raum der Straße besteht, die im Hof zu einer gewissen Privatheit führen müsste, stellen die Größe und die unüberschaubare Anzahl der Anwohner des Hofs ein Problem dar.“50 Besonders hart trifft das Mäckler’sche und Roth’sche Verdikt die Siedlungen der klassischen Moderne, also beispielsweise Bruno Tauts Berliner Wohnstadt Carl Legien von 1929 oder Ernst Mays Frankfurter Siedlung Bruchfeldstraße. Über Erstere schreiben sie: „Der Hof [] bleibt [] weitgehend ungenutzt, weil er nur über den Keller erreichbar ist. Für einen Siedlungsbau unüblich und als Besonderheit anzumerken ist auch, dass alle Wohnungen, unabhängig von der Himmelsrichtung, mit Loggien in den Hof hinein orientiert sind, so dass der öffentliche Raum der Straße auf der Eingangsseite der Häuser recht leblos erscheint.“51 Und die Bruchfeldstraße wird mit folgenden Worten bedacht: „Wie in der Wohnstadt Carl Legien ist der von Wohnhäusern eingefasste Hofraum in Frankfurt Beispiel für eine gewisse Leblosigkeit und Anonymität, was unter anderem daran liegt, dass er den Häusern nicht direkt zugeordnet ist und die der jeweiligen Hausgemeinschaft vorbehaltenen Gartenparzellen nur über Kellertreppen zu erreichen sind.“52 Natürlich sollte Kritik an diesen wichtigen Wegmarken der Architekturgeschichte des 20. Jahrhundert erlaubt und auch selbstverständlich sein, aber insbesondere in Band 2 fällt auf, dass Projekte aus dem 19. Jahrhundert immer mit rosaroter Brille präsentiert werden, während auf moderne Siedlungen aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts tendentiell der Bannstrahl fällt.

Band 3, der dem Thema Platzräume gewidmet ist, hebt mit dem Essay „Der Platz – ein Grundelement der europäischen Stadt“ von Jan Pieper (geb. 1944) an, dem emeritierten Professor für Baugeschichte und Denkmalpflege an der RWTH Aachen. Pieper – neben Gerhard Curdes ein weiterer Aachener Hochschullehrer, der in seinem Aufsatz Camillo Sitte gegen seinen Ex-Kollegen Gerhard Fehl verteidigt – zeichnet eine große Erzählung der Architekturgeschichte seit dem 4. Jahrtausend v. u. Z., kommt aber mit einer Argumentationslinie, die ihren Ausgang bei altorientalischen Stationen wie Uruk und Eridu hat, zu dem erstaunlichen Satz: „Der städtische Platz ist [] eine europäische Erfindung, die sich nach Raum und Zeit recht präzise benennen lässt.“53 Erst mit der Entstehung der Agora – und damit dem „freien, auf eigene Rechnung wirtschaftenden und im demokratischen Verband handelnden Staatsbürger“ –,54 konnte, so Pieper, der städtische Platz entstehen. Außerhalb von Europa findet er in der Architekturgeschichte entweder gleich gar keine Plätze (in Afrika nämlich) – oder er vermag in ihnen nur „Ritualinstrumente“ für Menschenmassen zu erkennen. Die Plätze von Jaipur oder Udaipur in Indien? Nur „Architekturplätze“ mit „Aneignungen des Raums durch die versammelte Menge“.55 Plätze in China? Japan? Nur Quasi-Plätze, die städtebauliche Abbilder der „kosmischen Ordnung“ seien. Auch in dem „riesigen islamisch geprägten Stadtkulturraum, der sich vom Maghreb bis nach Indien erstreckt“, kann Pieper keinen Platz erkennen, „da das Marktgeschehen in aller Regel linear in gedeckten Basaren organisiert ist (Isfahan, Delhi, Buchara), oder es findet auf weiten, architektonisch nicht gefassten Flächen vor den Toren statt (Marrakesch).“56 Der Autor weiter: „Die in Indien und Persien ‚Meidan‘ genannten Freiflächen innerhalb der Städte (Isfahan, Delhi) sind in der Regel Distanzflächen vor Herrschaftsbauten [].“57 Dass auch die europäische Stadtbaugeschichte von Anfang an sowohl von ritualisierten Praktiken durchzogen ist als auch kosmische Ordnungsvorstellungen abzubilden und Distanzflächen von Herrschaftsbauten zu errichten verstand – dies alles ficht Pieper nicht an. Er präsentiert eine eurozentrische Exzeptionalismuserzählung, die auf tönernen Füßen steht, weil sie ihre kolonialen Quellen nicht reflektiert und die Mühe der Ebene namens Differenziertheit scheut.

Der „europäische Platz“, von Pieper mit hohldrehendem argumentativen Aufwand in die Nähe eines Geburtsortes der Demokratie gerückt, wird im Bild- und Zeichnungsteil anhand von 48 deutschen Iterationen vorgestellt. Darunter fallen auch der Münchner Königsplatz und der Ostberliner Strausberger Platz, deren signifikante nicht-demokratische Überformungs- bzw. Entstehungsgeschichte mit keinem Wort erwähnt wird. Zwei der vorgestellten Plätze – der Dresdner Theaterplatz und der Karlsruher Marktplatz – waren im Nationalsozialismus nach Adolf Hitler benannt (wenn man die Hamburger Alsterarkaden dem benachbarten Rathausplatz zuordnet, sind es sogar drei), und so gut wie alle vor 1945 fertiggestellten Plätzen verfügen über eine erwähnenswerte NS-Nutzungs- und Appropriationsgeschichte. Auch derlei wird in dem Band nirgendwo erwähnt – ebenso wenig wie die Tatsache, dass der ebenfalls präsentierte Berliner Walter-Benjamin-Platz seine formalen Anleihen von Benito Mussolinis Lieblingsarchitekten Marcello Piacentini bezieht und der für die Platzgestaltung verantwortliche Baumeister Hans Kollhoff dort mitten auf der Freifläche ein antisemitisch konnotiertes Ezra-Pound-Zitat anbrachte, welches nach viel Protest im Jahre 2020 entfernt wurde.58 Mäckler und sein Team entlocken dem dortigen Genius loci nur entpolitisierten Sermon: „Die Anmutung des Materials, seine Fügung und Oberflächenbeschaffenheit, vor allem aber die sorgfältige Ausarbeitung des architektonischen Details sind die Grundlage von Schönheit und Dauerhaftigkeit im öffentlichen Raum der Stadt.“59 Bei sieben der vorgestellten Platzräume sind in rot „ehemalige Raumkanten“ eingezeichnet: beim Berliner Chamissoplatz, beim Frankfurter Römerberg bzw. Paulsplatz, beim Kemptner Rathausplatz, beim Leipziger Marktplatz, beim Lindauer Bismarckplatz, beim Stralsunder Alten Markt und beim Weimarer Marktplatz. Zumindest bei einem Teil der Beispiele dürfte Mäcklers Rekonstruktionslust geweckt worden sein, die er in den letzten Jahren an vielen Orten in Deutschland – vor allem bei der Neuen Frankfurter Altstadt – an den Tag gelegt hatte.

Der letzte Band – Nummer 4 – ist dem Thema Straßenräume gewidmet. Hier darf Vittorio Magnago Lampugnani (geb. 1951) einleiten, der emeritierte Professor für Geschichte des Städtebaus an der ETH Zürich. In seinem Aufsatz „Die städtische Straße“ blickt er zunächst neidisch auf das Theater, wo bis heute „die Straße ein wichtiger Ort der dramatischen Auseinandersetzung geblieben“ ist – im Gegensatz zur Architektur und Stadtplanung: „Was die künstlerische Inszenierung des Lebens der Wirklichkeit entlehnt hat, ist in Wirklichkeit selbst zunehmend verhindert.“60 Es folgt eine erwartbare Lobrede auf die Boulevards des 19. und eine Kritik am Zeilenbau des 20. Jahrhunderts: „Der Bruch in dieser neuen Entwicklung erfolgte in den 1920er und 1930er Jahren mit dem Neuen Bauen. Die unhaltbaren Lebensbedingungen des städtischen Proletariats in den ebenso ungesunden wie überbelegten Mietskasernenwohnungen des späten 19. Jahrhunderts regten die sozial engagierten Architekten an, Alternativen zur historischen Stadt zu entwickeln. In einer geschichtlich verständlichen, aber einseitigen Reaktion schienen Licht, Luft und Sonne die maßgeblichen Voraussetzungen eines gesunden, würdigen Lebens zu sein.“61 Hoffnung schöpft Lampugnani aus dem postmodernen Städtebau, wie er etwa in den 1970er-Jahren von Rob Krier am Beispiel von Stuttgart imaginiert wurde: „Die Entwürfe sehen monumentale Achsen, regelmäßig bepflanzte Alleen, lange Kolonnaden und feierlich geometrisierende Gebäude vor; sie sollen die innerstädtische Leere, die nur ‚kollektive Traurigkeit‘ erzeugt, in erlebbare Stadträume verwandeln, in denen die Bürger ‚ihre menschliche Würde‘ wiederzufinden vermögen.“62

Im Projektteil des Straßenräume-Bandes präsentieren Mäckler und Roth „vier Entwurfskategorien“, „die dem heutigen Städtebau weitgehend verloren gegangen“ seien: „die Allee im Straßenraum, die Zielgebäude im Straßenraum, die Biegung im Straßenraum und die Arkaden im Straßenraum“.63 Es folgen die Darstellungen von 37 beispielhaften Straßen mit teils sehr alter Geschichte, bei denen immer wieder die Beschwörungsformel auftaucht, deren Qualitäten „in unsere Zeit übertragen“ zu wollen.

So wird etwa über die Segringer Straße in Dinkelsbühl – einer Jahrhunderte alten Hauptstraße – ausgeführt: „In unsere Zeit übertragen, würde man den Häusern auf ihrer Rückseite einen Garten zuordnen und könnte so von einer Reihenhausanlage sprechen.“64 Analog dazu hegen die Herausgeber*innen auch bei der Altstadt von Landshut mit ihren Backsteintürmen der Kirche St. Martin im Süden der Spitalkirche Heilig Geist im Norden und der 700 Meter langen Straße zwischen Isar und Dreifaltigkeitsplatz Wiederholungshoffnungen: „Wie die Segringer Straße in Dinkelsbühl ist die Altstadtstraße in Landshut Beispiel für ein Quartierszentrum, das als stadträumliche Einheit in unsere Zeit übertragbar ist.“65 Entsprechend schreiben Mäckler und Roth über die Potsdamer Mittelstraße: „Das Erscheinungsbild der aufgereihten zweigeschossigen roten Bürgerhäuser mit geschweiften, im Detail unterschiedlich ausgeformten Giebeln, die in rhythmischem Wechsel zu traufständigen Häusern stehen, ist ein einheitliches Gesamtbauwerk, das als Beispiel aus dem 18. Jahrhundert auch heute, im 21. Jahrhundert, in sicher veränderter Architektur als identitätsstiftender Straßenraum realisierbar ist.“66 Und selbst die Ludwigstraße mitten in der Altstadt von Regensburger – eine Stadt mit immerhin rund 7.000-jähriger Geschichte – verleiht den Herausgeber*innen Übertragungswünsche: „Derartige stadträumliche Situationen sind auch im Städtebau unserer Zeit mit wenig Aufwand realisierbar, wenn Architektur und Städtebau wieder als Einheit gedacht und realisiert werden.“67 Doch wie genau derlei jahrhunderte- bzw. jahrtausendealten Weg- und Straßenstrukturen samt ihrer zumeist sakralen Zielgebäude mit „wenig Aufwand“ in die Gegenwart übertragen werden könnten, darüber schweigt sich das Buch aus.

Zusammenfassend ist über das vierbändige Handbuch der Stadtbaukunst zu sagen, dass dessen edle Aufmachung im Schuber nicht davon ablenken sollte, dass die Inhalte mehr als dürftig sind. Dass das Buch selbst einen der einflussreichsten Akteure der zeitgenössischen Sitte-Rezeption, nämlich Michael Mönninger, nicht überzeugen kann, ist in diesem Zusammenhang beachtlich.68 Die teils wie zufällig wirkenden Analysekategorien gehen eine Mesalliance mit den oberflächlichen Begleittexten der ausgewählten Beispiele ein. Eine Kombination aus Wikipedia und Google Street View ist in ihrem Informationsgehalt einzelner Stadt-, Hof-, Platz- und Straßenräume diesem Handbuch deutlich überlegen. Gefährlicher indes ist die Deutschland-Fixiertheit zentraler Akteure des Stadtbaukunst-Diskurses hierzulande, also die Selbstverständlichkeit, mit der in diesem Buch das Leitbild der „europäischen Stadt“ nur an nationalen Beispielen ausgebreitet wird. Sie muss als „methodischer Nationalismus“ (Ulrich Beck) bezeichnet werden. Gleichwohl dürfte sich dahinter ein machtpolitisches Kalkül verbergen, versteht es das Deutsche Institut für Stadtbaukunst doch gut, sich in Dutzenden von deutschen Städten mit den jeweiligen Stadtplanungsamtsleiter*innen zu vernetzen und dort für das eigene Anliegen zu werben. Gerhard Fehl hat einmal in seinem Buch Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft darauf hingewiesen, dass die Stadtbaukunst-Bewegung um 1900 der Sittes, Henricis und Gurlitts von „Volkserziehern“ aus dem Bildungsbürgertum vertreten wurde, die ihre rationalistische Konkurrenz und deren Erfolg bei Herrschenden argwöhnisch betrachteten – und „im Vertrauen auf die ‚Macht des Geistes‘ glaubten, die Welt durch Bücher und Pläne verändern zu können“.69 Sie schlossen sich daher auch nie organisatorisch zusammen.70 Das hat sich mit Mäckler doch stark geändert. Erst mit ihm und seinem Frankfurter Institut hat die Stadtbaukunst institutionell Façon erreicht. Ganz offenkundig auf Kosten einer „Macht des Geistes“, die die Stadtbaukunst vor allem nach Sitte eh nie so recht hatte.

Abb. 6

Realpolitische Lefebvre-Verhackstückungen: Elodie Vittu: Recht auf Stadt – Von einem theoretischen Konzept aus Frankreich zu „Recht Auf Stadt“-Bewegungen in Lateinamerika und Europa (2021)

Bei der Suche nach Strömungen im Urbanismusdiskurs, die sich zur wertkonservativen Stadtbaukunst-Programmatik oppositionell verhalten, stößt man schnell auf „Recht auf Stadt“-Bewegungen. Ihnen hat Elodie Vittu eine von Max Welch Guerra und Nikolai Roskamm betreute und 2018 abgeschlossene Dissertation gewidmet, die 2021 unter dem Titel Recht auf Stadt – Von einem theoretischen Konzept aus Frankreich zu „Recht Auf Stadt“-Bewegungen in Lateinamerika und Europa als Buch erschienen ist [Abb. 6]. Die Autorin konstatiert darin, dass der „Recht auf Stadt“-Ruf, der mit unterschiedlichem Tiefgang auf Henri Lefebvres Buch Le droit à la ville (1968) zurückgeht, aufgrund der neoliberalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte „aktueller denn je“ sei.71 Er spreche „KleingärtnerInnen und Autonome gleichermaßen“72 an und sei nicht nur „Motto für Aktionen, politisches Programm und Kampagnenleitsatz“, sondern etabliere sich auch zunehmend in der scientific community, vor allem der „kritischen Wissenschaft“.73 Vittu tangiert mit ihrem Buch verschiedene Wissenschaftsdisziplinen – Bewegungsforschung, Gesellschaftstheorie, Planungsgeschichte sowie Stadtforschung74 – und stellt fünf zentrale Thesen auf: Erstens sei der Begriff „Recht auf Stadt“ „keine Theorie“, sondern ein „Konzept“, welches Wissenschaft und soziale Praxis verbinde; zweitens lasse sich mit diesem Konzept eine gerade Linie vom Widerstand gegen die industrielle Stadt seit den späten 1960er-Jahren zum Widerstand gegen die postindustrielle bzw. neoliberale Stadt der Gegenwart ziehen; drittens gebe es keine einheitliche Definition von „Recht auf Stadt“ – der Begriff sei „offen genug, um soziale Bewegungen zusammenzuhalten“; viertens seien „Recht auf Stadt“-Bewegungen „links, selbstorganisiert, kapitalismuskritisch und antirassistisch“; und fünftens sei ihre Heterogenität hinsichtlich der Beteiligungskultur im politischen Prozess, der Protestformen und der Themengebiete „eine Stärke, welche die Kraft der Gemeinsamkeiten nicht schmälert“.75

            In der Tat wird bei der Vittu-Lektüre das weite gesellschaftliche Feld ersichtlich, auf dem Lefebvres Ideen fruchteten – teils mit jahrzehntelanger Verzögerung. Als Gemeinsamkeiten dieser so unterschiedlichen Lefebvre-Rezeptionen macht die Autorin drei Aspekte deutlich: „Erstens das ‚Recht auf Zentralität‘ (nicht zu verwechseln mit einem Anspruch auf eine Nähe zum geografischen Zentrum der Stadt) als Garant für menschliche Begegnungen und Austausch, wo auch immer. Zweitens das ‚Recht auf Stadt‘, ein Sich-Wahrnehmen durch die Begegnung mit der Andersartigkeit der anderen. Und drittens schließlich die ‚Partizipation und Selbstverwaltung‘ als Mittel der Erreichung der beiden anderen Rechte.“76 Wenngleich aus seinen Texten, so Vittu, „keine praktischen Handlungsempfehlungen abgeleitet werden“;77 wenngleich Le droit à la ville keine Hinweise auf konkrete Stadtplanungsprojekte enthält78 und wenngleich Lefebvres „einzige bekannte Beteiligung an konkreten stadtplanerischen Projekten“ das „Agora“-Projekt in Créteil war,79 hat die französische Stadtpolitik laut Vittu „die Ideen von Lefebvre in ihre Gesetze inkorporiert“.80 Denn das „Recht auf Stadt“, führt die Autorin aus, wurde „in den 1970er-Jahren in der neuen Stadtpolitik NPU und in den 1990er-Jahren durch das Gesetz LOV Loi d’Orientation sur la Ville verankert“.81 Dessen erster Artikel übernehme sogar wortwörtlich Lefebvres Begriff: „Um das Recht auf Stadt umzusetzen, versichern die Gemeinden, die anderen Gebietskörperschaften und Gemeindeverbände, der Staat und ihre [sic] öffentlichen Niederlassungen allen Einwohnern der Städte Lebens- und Wohnbedingungen zu schaffen, die die soziale Kohäsion fördern und Segregationsphänomene vermeiden oder beseitigen.“82 Auch in anderen Ländern fiel Lefebvre auf fruchtbaren parteipolitischen Boden: So gewinnt im Jahre 2010 die von George Kaminis geführte griechische Partei „Right to the City“ die Kommunalwahlen in Athen.83 Und im Jahre 2015 fährt in Barcelona Ada Colau mit ihrer ebenfalls auf Lefebvre sich berufenden Partei „Barcelona en Comú“ den Wahlsieg ein.84 Ein „Recht auf Wohnen“ finde sich zudem in der Landesverfassung des Freistaats Thüringen (Artikel 15).85

Vittu verhehlt nicht, dass derlei realpolitische Lefebvre-Verhackstückungen bei einem Teil der „Recht auf Stadt“-Aktivist*innen und -Theoretiker*innen umstritten sind; Manuel Castells nannte sie gar einen „Todeskuss“.86 Denn auf der Strecke bleibt dabei eine dezidiert antikapitalistische und damit „tendenziell revolutionär[e] Einstellung“,87 die die insgesamt 46 von der Autorin untersuchten „Recht auf Stadt“-Bewegungen mitunter eben auch auszeichne. Vier davon, und zwar in Hamburg, Jena, Budapest und im brasilianischen Rosario verortete, analysiert sie en détail – und kommt zu dem überraschenden Schluss, dass „[z]ukünftige Umweltfragen wie Klimawandel, Wasserverteilung, Energieversorgung, Automobilität [] von den untersuchten ‚Recht auf Stadt‘-Bewegungen bis dato nicht thematisiert“ würden.88 Dies liest sich natürlich enttäuschend und mag sich in letzter Zeit auch geändert haben, aber entgegen der eher distanzlosen Berichterstattung Vittus – sie schreibt nach eigenem Bekunden als „politisch engagierte Person in deutsch-französischen Netzwerken für das Recht auf Wohnen und Recht auf Stadt“89 – muss konstatiert werden, dass „Fridays for Future“, „Extinction Rebellion“, „Letzte Generation“ et al. den „Recht auf Stadt“-Aktivist*innen in puncto Durschlagkraft und Aufmerksamkeitsökonomie klar den Rang abgelaufen haben. Die terrestrische Perspektive von Klimaaktivist*innen erscheint den Gegenwartsherausforderungen angemessener als ein Rückblick auf Lefebvre, dem in Vittus Buch mit einem Zitat von Nikolai Roskamm ein „erstaunlich nostalgische[r] und darin vehement konservative[r] Blick auf die Stadt“90 vorgeworfen wird. Davon ist auch die Autorin nicht völlig frei, wenn sie in einem Buch, das sich den weltweiten „Recht auf Stadt“-Bewegungen widmet, unkritisch mit dem Begriff der „europäischen Stadt“ hantiert.91 Um dann kurzerhand „all jene Bewegungen“ aus ihrer Untersuchung auszuschließen, „die xenophob, reaktionär und rechtspopulistisch sind, auch wenn sie als Forschungsgegenstand sicherlich für die Analysekategorien neue Erkenntnisse bringen könnten“.92 Dabei wäre ein die zentralen Unterschiede herausarbeitender Abgleich zwischen linken „Recht auf Stadt“-Gruppen und rechten „Pro-Altstadtvereinen“93 ein gerade auch für Vittus Buch durchaus erkenntnisförderndes Unternehmen gewesen.

Fußnoten

1 Vgl. Isabelle Doucet, Janina Gosseye, Anne Kockelkorn: „From Le Droit à la Ville to Rechte Räume – Legacies and legends of the Movement for the Reconstruction of the European City“ (2019), www.research-collection.ethz.ch/bitstream/handle/20.500.11850/390854/HNI_paper.pdf?sequence=11&isAllowed=y (Stand: 23. März 2023)

2 Zu erwähnen ist hier beispielsweise das „Urban Age“-Programm der London School of Economics, mit dem seit 2005 ein internationales Kompetenznetzwerk zusammengewachsen ist und das zu Konferenzen u.a. in New York, Shanghai, London, Mexico City, Johannesburg, Berlin, Mumbai, São Paulo und Istanbul geführt hat. 

3 Philipp Panerai hat hierzu verschiedentlich publiziert.

4 Walter Siebel: „Zueignung“, in: ders. (Hg.): Die europäische Stadt, Frankfurt am Main 2004, S. 9

5 Peter Marcuse: „Verschwindet die europäische Stadt in einem allgemeinen Typus der globalisierten Stadt?“, in: Siebel 2004 (wie Anm. 4), S. 112

6 Ebd., S. 112

7 Ebd., S. 112 f.

8 Das mittelalterliche Bologna war eine Hochhausstadt, die von 180 so genannten „Geschlechtertürmen“ geprägt war, deren Höhe die Sakralbauten vor Ort teils deutlich überragten, und von denen vor allem noch die schiefen Türme Asinelli (97 Meter) und Garisenda (48 Meter) erhalten sind. 

9 In Washington D.C. gibt es keinen Central Business District mit Bürotürmen.

10 Walter Siebel: „Einleitung: Die europäische Stadt“, in: Siebel 2004 (wie Anm. 4), S. 11

11 Ebd., S. 13

12 Ebd., S. 14

13 Ebd.

14 Ebd., S. 16

15 Ebd., S. 17

16 Ebd., S. 12

17 Johann Jessen: „Europäische Stadt als Bausteinkasten für die Städtebaupraxis – die neuen Stadteile“, in: Siebel 2004 (wie Anm. 4), S. 93

18 Ebd., S. 92

19 Ebd., S. 95

20 Ebd., S. 104

21 Ebd.

22 Vgl. Esra Akcan: Open Architecture – Migration, Citizenship and the Urban Renewal of Berlin-Kreuzberg by IBA 1984/87, Basel 2018, S. 48 ff.

23 Ebd., S. 260

24 Ebd., S. 71

25 Ebd.

26 Ebd.

27 Vgl. ebd., S. 223

28 Cihan Arın, zit. nach Akcan 2018 (wie Anm. 22), S. 221

29 Ebd.

30 Ebd., S. 264 f.

31 Ebd., S. 180

32 Vgl. Claudia Kromrei: Postmodern Berlin – Wohnbauten der 80er Jahre, Zürich 2018

33 Stephan Trüby: „In Verlautbarungsgewittern – Kritik des Deutschen Instituts für Stadtbaukunst“, in: ders.: Rechte Räume – Politische Essays und Gespräche, Berlin 2020, S. 151–170, archplus.net/de/in-verlautbarungsgewittern-kritik-des-deutschen-instituts-fuer-stadtbaukunst (Stand: 23. März 2023)

34 Christoph Mäckler: „Dank“, in: Christoph Mäckler mit Birgit Roth (Hg.): Handbuch der Stadtbaukunst – Anleitung zum Entwurf von städtischen Räumen, Band 1: „Stadträume“, Berlin 2022, S. 5

35 Ebd.

36 Christoph Mäckler: „Das Bauwerk Stadt – eine Anleitung zum Entwurf“, in: ders. 2022 (wie Anm. 34), S. 9

37 Ebd., S. 11

38 Ebd., S. 12

39 Ebd., S. 13

40 Ebd., S. 12

41 Ebd., S. 8

42 Der 8. CIAM-Kongress mit dem Motto The Heart of the City („Das Herz der Stadt“) fand 1951 in Hoddesdon, England, statt.

43 Werner Oechslin: „Embellissement – Die Verschönerung der Stadt“, in: Mäckler 2022 (wie Anm. 34), S. 20

44 Vgl. Thomas Will: „Die Stadt als Ensemble“, in: Mäckler 2022 (wie Anm. 34), S. 34

45 Ebd., S. 36 (Fußnote 4)

46 Christoph Mäckler mit Birgit Roth: „Stadträume im Vergleich“, in: Mäckler 2022 (wie Anm. 34), S. 76

47 Wolfgang Sonne: „Der städtische Block“, in: Christoph Mäckler mit Birgit Roth (Hg.): Handbuch der Stadtbaukunst, Band 2: „Hofräume“, Berlin 2022, S. 6

48 Alexander Pellnitz: „Die Stadt – Formen und Konstanten“, in: Mäckler 2022 (wie Anm. 47), S. 22

49 Vgl. Christoph Mäckler mit Birgit Roth: „Beispiel von Hofräumen als Anleitung zum Entwurf“, in: Mäckler 2022 (wie Anm. 47), S. 24 f.

50 Ebd., S. 48

51 Ebd., S. 60

52 Ebd., S. 74

53 Jan Pieper: „Der Platz – ein Grundelement der europäischen Stadt“, in: Christoph Mäckler mit Birgit Roth (Hg.): Handbuch der Stadtbaukunst, Band 3: „Platzräume“, Berlin 2022, S. 9

54 Ebd.

55 Ebd., S. 7

56 Ebd., S. 8

57 Ebd.

58 Vgl. Verena Hartbaum: „Rechts in der Mitte – Hans Kollhoffs CasaPound“, in: ARCH+ 235: Rechte Räume – Bericht einer Europareise“ (Mai 2019), S. 218–225, archplus.net/de/ausgabe/235/#article-5091 (Stand: 23. März 2023)

59 Christoph Mäckler mit Birgit Roth: „Platzräume im Vergleich“, in: dies 2022 (wie Anm. 53), S. 64

60 Vittorio Magnago Lampugnani: „Die städtische Straße“, in: Christoph Mäckler mit Birgit Roth (Hg.): Handbuch der Stadtbaukunst, Band 4: „Straßenräume“, Berlin 2022, S. 6

61 Ebd., S. 7

62 Ebd., S. 9

63 Christoph Mäckler mit Birgit Roth: „Beispiele von Straßenräumen als Anleitung zum Entwurf“, in dies. 2022 (wie Anm. 60), S. 12

64 Ebd., S. 50

65 Ebd., S. 84

66 Ebd., S. 100

67 Ebd., S. 103

68 Vgl. Michael Mönninger: „Direktiven für die schöne Stadt – Christoph Mäckler und seine Mitautoren suchen in ihren Anleitungen zur Stadtbaukunst nach alten Regeln für neues Bauen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. August 2022, www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/das-von-christoph-maeckler-herausgegebene-handbuch-der-stadtbaukunst-18224977.html, (Stand: 26. April 2023). Mönninger kommt darin zu dem Schluss: „Insgesamt aber neigt die Gesellschaftsidee im Handbuch mehr zum Ordnungsruf nach älteren Stadtorganisationen mit starken sozialräumlichen Bindungsmächten und weniger zur neuen Urbanität der individuellen Freiheitsrechte. Etwas mehr Wahlfreiheit sollten Lehrbücher heute schon bieten.“

69 Gerhard Fehl: Kleinstadt, Steildach, Volksgemeinschaft – Zum ‚reaktionären Modernismus‘ in Bau- und Stadtbaukunst“, Braunschweig/Wiesbaden 1995, S. 43

70 Ebd.

71 Elodie Vittu: Recht auf Stadt – Von einem theoretischen Konzept aus Frankreich zu „Recht auf Stadt“-Bewegungen in Lateinamerika und Europa, Weimar 2021, S. 13

72 Ebd., S. 256

73 Ebd., S. 14

74 Ebd., S. 17

75 Ebd.

76 Ebd., S. 250

77 Ebd., S. 43

78 Ebd., S. 44

79 Ebd., S. 64

80 Ebd., S. 29

81 Ebd., S. 28

82 Ebd., S. 29

83 Vgl. ebd.

84 Vgl. ebd.

85 Vgl. ebd., S. 206

86 Manuel Castells, zit. nach Vittu 2021 (wie Anm. 71), S. 234

87 Vittu 2021 (wie Anm. 71), S. 254

88 Ebd., S. 260

89 Ebd., S. 145

90 Nikolai Roskamm, zit. nach Vittu 2021 (wie Anm. 71), S. 44

91 Vgl. Vittu 2021 (wie Anm. 71), S. 38

92 Ebd., S. 107

93 Vgl. Stephan Trüby: „Die Einstecktuchisierung verrohter Bürgerlichkeit“, in: ders.: Rechte Räume –. Politische Essays und Gespräche, Berlin 2020, S. 141 f.