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© Larissa Fassler
Empfehlung

Larissa Fassler: Viewshed

Rezension von Sebastian Bührig

Dem bloßen Auge erschließt sich zumeist nicht unmittelbar, wie Handlungsmuster, Ordnungsstrukturen und Machtverhältnisse das Leben in unseren Städten prägen. In Raum und Zeit werden deren Auswirkungen offenbar. Es braucht Wissen und Werkzeuge, um dies zu erkennen. Mit ihren künstlerisch-architektonisch-ethnografischen Methoden entwickelt die Künstlerin Larissa Fassler seit vielen Jahren Darstellungsweisen, mit denen sie die verborgenen Zusammenhänge des urbanen Raums sichtbar zu machen vermag. Ihr 2022 erschienenes Buch Viewshed versammelt nun eine Fülle an Einsichten in ihre Arbeiten und ist eine eindrucksvolle Werkschau ihrer künstlerischen Entwicklung.

Die visuelle Aufbereitung von Informationen, welche die Leserinnen und Lesern Zusammenhänge begreifen lässt, die ihnen sonst verborgen blieben, ist eine Kunst, die politische Wucht entwickeln kann. Larissa Fassler porträtiert gesellschaftliche Konflikte, die im Stadtraum abzulesen sind. „Moritzplatz“ etwa zeigt Überlagerungen von Weltkriegszerstörungen, Alltagszenen der Menschen und den Auswirkungen brutaler Verteilungskämpfe darüber, wer sich wo aufhalten kann, soll und darf – und wer nicht. Die Serie „CIVIC. CENTRE. I, II, III” thematisiert Spuren des Niedergangs öffentlichen Lebens in den Stadtzentren nordamerikanischer Großstädte, gezeichnet von den Folgen gesellschaftlicher Verarmung und Verrohung. Mit ihren kartografischen, diagrammatischen und skulpturalen Verfahren der Aufbereitung und Vermittlung komplexer Konfliktlagen im urbanen Raum steht Fasslers Werk in einer Traditionslinie mit bedeutenden Kartografien gesellschaftlicher, menschlicher Realität. Als ein frühes und wegweisendes Vorbild seien hier die Armutskarten von Charles Booth angeführt: Im Winter 1885/86 kam es in London zu öffentlichen Protesten und schweren Ausschreitungen. Die Lebensverhältnisse in der Stadt waren für viele Menschen derart miserabel, dass in den gesellschaftlichen Eliten die Furcht vor einem Umsturz der Verhältnisse grassierte. Angetrieben von Zweifeln an den schaurigen Geschichten über das Elend, verwendete der Unternehmer Booth viel Energie, Zeit und Geld darauf, eine umfassende Erhebung über die tatsächlichen Lebensbedingungen der Stadtbevölkerung durchzuführen. Auf der Grundlage einer Fülle an Daten wurden Karten zur Sozialstruktur der Stadt erstellt. Diese zeigten: Rund ein Drittel aller Londoner lebte in Armut. Nicht nur Booth machte sich, eines bessern belehrt, von nun an für Reformen stark. Seine Karten hatten es vermocht, soziale Probleme in das öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Häufig verwendet Larissa Fassler in ihren Kartografien die stadtplanerische Vogelperspektive – doch kommt darin in einer überwältigenden Fülle all jenes zum Vorschein, das der planerischen Sichtweise zumeist verborgen bleibt: das Leben der Menschen. Um dies zu erfassen, braucht es notwendigerweise die Möglichkeit, den Blick in Nähe und Ferne wechseln zu lassen – dem entsprechen die Buchseiten geschickt durch Ansichten aus verschiedensten Distanzen. In einer drängenden Vielschichtigkeit überlagen sich Konturen architektonischer Gestaltung, Bewegungsströme, Stimmen und Stellungnahmen von Menschen, Verweise auf Sinneseindrücke, Alltagsroutinen der Nutzung, Beobachtungen von Handlungen sowie Spuren von Handlungen, Symbole und symbolische Markierungen, mediale Projektionen, Vergangenheit und Gegenwart und sich abzeichnende Zukunft. Sie setzt in ihrer Kunst diese Informationen auf eine Weise zueinander in Beziehung, die Konflikte und Widersprüche sichtbar werden lässt. Ihr Werk thematisiert Brüche und Umbrüche in Stadt und Gesellschaft, Macht- und Besitzverhältnisse, Ungleichheiten, Verdrängungsprozesse auf dem Immobilienmarkt, Stadtentwicklungspolitik, Mobilität, Protestformen, Sicherheit und Unsicherheit, Schutzbedürfnisse, Armut, Drogenabhängigkeit, Obdachlosigkeit, Tourismus.

Ausgehend von mikrosoziologischen Betrachtungen vermag sie es, Verbindungslinien zu ziehen zu den großen Tiefenströmungen unserer Gesellschaft. Aufklärerisch trägt ihr Werk bei zur Entschleierung unserer alltäglichen Welt, in der wir allzu vieles oftmals übersehen mögen, gerade weil wir meinen, es sei uns bereits bekannt. Aufmerksam beobachtet Fassler die Menschen im urbanen Raum, hört ihnen zu und stellt sich Fragen nach den Beweggründen für ihr Handeln. Um während ihrer ausdauernden ethnografischen Streifzüge im urbanen Feld ungestört agieren zu können, bedient sie sich Kunstgriffen wie dem Tragen von Kopfhörern oder der Vortäuschung demonstrativer Langeweile. Das Klemmbrett für Notizen und Skizzen vor der Brust verleiht ihr einen Anstrich des Offiziellen, sodass ihre künstlerische Forschung zuweilen versteckt in aller Offensichtlichkeit stattfinden kann. Dies ist bezeichnend für ihre Zurückhaltung. Besonders in ihren frühen Werken hielt sich die Künstlerin mit ihrer eigenen Stimme betont im Hintergrund, bemühte sich um eine neutral beschreibende Sprache. Ankerkennend, dass mit der Auswahl von Informationen und deren Kontextualisierung unvermeidbar andere außen vor bleiben – dass sich aus dem, was gezeigt wird und dem, was nicht, bestimmte Sichtweisen auf Ausschnitte der Wirklichkeit ergeben und kartografische Darstellungen somit nicht neutral, niemals nur ein sachliches Abbild der Realität sein können – gestattete Fassler sich im Verlaufe ihrer künstlerischen Entwicklung zunehmend, ihre eigene Haltung in ihren Arbeiten stärker zum Ausdruck kommen zu lassen.

Nur folgerichtig ist es, dass die Künstlerin am Ende des Buches in einem Interview zu Worte kommt und ihre Positionen darlegt: Das Motiv für ihr schöpferisches Schaffen ist es zu zeigen, welch elementare Bedeutung das Funktionieren öffentlicher Räume für unsere Gesellschaften haben. Sehr schön beschreibt sie ihren Wunsch, „Wege zu finden, einander zu kennen und zu helfen“, um „Zusammenhalt und beständige Beziehungen“ zu schaffen.1 Ihre Arbeit ist ein Versuch, die Notwendigkeit dafür sichtbar zu machen.

Fasslers grundlegender Anspruch an ihr Buch Viewshed ist es, den Leserinnen und Lesern weitreichende Einblicke in das Wesen ihrer komplexen Werke zu ermöglichen. Durchstreift man die großformatigen 336 Seiten, so nähert man sich ihren Arbeiten aus verschiedenen Richtungen an – ein Stück weit vollzieht man selbst das Abenteuer der Entdeckung nach, welches im Mittelpunkt Fasslers Schaffens steht. Die Fülle Fasslers künstlerischer Fertigkeiten korrespondiert mit der inhaltlichen Vielschichtigkeit. In Anbetracht des überaus aufwendigen Druckes mag man es beim Blättern gar für möglich halten, nach der Lektüre an den Fingern Farbspuren direkt aus Fasslers Atelier vorzufinden.

Mit ihren Texten begleiten die Autorinnen Chris Blache, Pascale Lapalud, Nicole Burisch, Shauna Janssen, Fiona Shipwright und Karen E. Till die Leserinnen und Leser durch das Buch und skizzieren anschaulich ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf Fasslers Arbeiten – setzen sie in Beziehung zu Diskursen um Erinnerungskultur, nationaler und raumbezogener Identität, Szenografie, politischen Aktivismus, Feminismus und Fragen sozialer Gerechtigkeit. Die Publikation selbst wird so zu einem diskursiven Ort, wie Diana Sherlock schreibt – eine Weggefährtin Fasslers, die Viewshed sorgsam editiert hat. Die Essays sind zu lesen in den drei Sprachen Englisch, Französisch und Deutsch – es sind die drei Sprachen, in denen die Künstlerin lebt, denkt, arbeitet: „Ich beherrsche jede dieser Sprachen unterschiedlich gut und verstehe jetzt zutiefst, wie Sprache kulturelle Werte ausdrückt und wie Sprachkenntnisse gesellschaftliche Zugänge gewähren und Barrieren schaffen, was zu unterschiedlichen Seinsweisen führt“2, sagt sie. Auch hierin spiegelt sich die Perspektivenvielfalt Fasslers. Ihre Kunst der Nach-, Neu- und Umzeichnung der Verhältnisse ist eine Arbeit an Weltbildern. Durch ihr Werk wird die Künstlerin Larissa Fassler zu einer Weltbildnerin. Sie ist eine Kartografin von Licht und Schatten des Urbanen.

Fußnoten

1 Larissa Fassler: „Larissa Fassler im Gespräch mit Diana Sherlock“, in: dies.: Viewshed, Berlin 2022, S. 307–309, hier S. 308

2 Ebd., S. 305

Larissa Fassler: Viewshed

Distanz Verlag

Berlin 2022

336 Seiten

engl./dt./fr. 44 Euro

ISBN 978-3-95476-435-8