The Great Repair – Politiken der Reparaturgesellschaft

Unsere moderne Welt beruht auf der Entwertung der Natur und des menschlichen Lebens, argumentieren der Historiker Jason W. Moore und der Ökonom Raj Patel. Im Gespräch mit der Gastredakteurin Milica Topalović, Alex Nehmer von ARCH+ und dem Architekten Nitin Bathla diskutieren sie, wie die Schäden repariert werden können, die das koloniale kapitalistische Weltsystem verursacht hat, ohne dabei auf Fixes zurückzugreifen, die die Krisen lediglich verlagern.

Bildessay: Bas Princen

Der Philosoph und Politikwissenschaftler Olúfẹ́mi O. Táíwò fordert, Klimagerechtigkeit mit Reparationen für historisches Unrecht zusammenzudenken. Mit den ARCH+ Redakteur*innen Alex Nehmer und Markus Krieger diskutiert er, wie sich sein materialistisches Verständnis von Reparatur für die zwingend notwendigen Transformationen in der Architektur fruchtbar machen lässt.

Bildessay: Richard Misrach

– Sub specie conservatoris

Der Begriff „Reparaturgesellschaft“ wurde 1993 auf der Passauer Tagung Vom modernen zum postmodernen Denkmalkultus? geprägt.¹ Zugegeben, Bindestrich-Etiketten zur Charakterisierung für Gesellschaft sind inflationär.

In den 1990er-Jahren prägte der damalige Landes­konservator von Oberösterreich und spätere Präsident von ICOMOS Österreich, Wilfried Lipp, mit einem
wegweisenden Text, der in dieser Ausgabe in Teilen wiederveröffentlicht ist, den Begriff der Reparatur­gesellschaft. Im Gespräch mit dem Gastredakteur
 Florian Hertweck, der Denkmaltheoretikerin und Architektin Silke Langenberg sowie Alex Nehmer und Markus Krieger von ARCH+ reflektiert er dessen 
Aktualität und Anschlussfähigkeit an das Projekt The Great Repair.

Der weltweite Ressourcenverbrauch steigt nach wie vor stetig. Verdeutlicht wird diese Tatsache durch den immer früher eintretenden Earth Overshoot Day – den symbolischen Zeitpunkt, an dem die Menschheit alle natürlichen Ressourcen verbraucht hat, die die Erde innerhalb eines Jahres reproduzieren kann. 2022 fällt er bereits auf den 28. Juli, was bedeutet, dass wir in den fünf Monaten danach auf Kosten der Zukunft leben.

Wie können Ökologie und Soziales in den anstehenden Transformationen in Architektur und Stadtplanung zusammengedacht werden statt sie gegenei­nander auszuspielen? Wie ist eine nachhaltige und gerech­­te Stadtentwicklung im Hinblick auf Energie und soziale Ungleichheit zu denken? Und was beinhal­tet die Vision einer solidarischen Postwachstumsstadt? Diese Fragen diskutieren im Folgenden der Stadt­forscher Anton Brokow-Loga und die Stadt- und Raumsoziologin Katrin Großmann mit dem Gast­redakteur Florian Hertweck sowie Markus Krieger und Alex Nehmer von ARCH+.

Die materielle Kultur des Globalen Nordens ist mehr denn je vom Prinzip der schöpferischen Zerstörung bestimmt. Ständige Innovation ist ihr vorrangiges Ziel. Indem Technologien immer schneller altern, wird aber auch immer mehr Müll produziert.

Wie lässt sich unser Wirtschafts- und Produktions­system hin zu Nachhaltigkeit und Langlebigkeit transformieren? Darüber diskutieren Gastredakteur Florian Hertweck und der Stadtplaner Panos Mantziaras mit dem Philosophen Pierre Caye, der Umweltfragen vom Schnittpunkt zwischen Ökologie, Wirtschaft und Technik aus betrachtet und sich dabei immer wieder auch mit Architektur und Städtebau auseinandersetzt.

Welche Konsequenzen hat das ständige Verlangen nach Neuem und Innovation? Und wie kann statt­dessen das Bewusstsein für die Bedeutung von Reparatur und Pflege gestärkt werden? Darüber diskutieren die beiden Technik­historiker Stefan Krebs und Andrew L. Russell mit den 
Gast­redakteur*innen Florian Hertweck und Marija Marić.

Die kapitalistische Logik, alle gesellschaftlichen Be­ziehungen zur Ware zu machen, hat zu einer tiefen Krise der Reproduktion des Lebens geführt.¹ Als Antwort darauf braucht es eine Care-Praxis, die für Joan C. Tronto und Berenice Fisher „alles einschließt, was wir tun, um unsere ‚Welt‘ zu erhalten, fortzuführen und zu reparieren, damit wir in ihr so gut wie möglich leben können“.

(Wieder)Aneignung ist ein belastetes Wort. Es trägt die Hypothek von so vielem, dem im Laufe der Geschichte eine Aneignung widerfahren ist: Land, Gemeinschaften, Tiere, Pflanzen, Wissen, Ressourcen. Aber genau durch dieses gebrochene Verhältnis zur Vergangenheit wird daraus ein Ausdruck des Widerstands, der Rückeroberung, Ermächtigung, Dekolonisierung und Reparatur.

Die Themen der Reparatur und Reparation sind seit langem ein Schwerpunkt der künstlerischen und kuratorischen Arbeit von Kader Attia. Die Reparatur als Handlungsmacht und Möglichkeit des dekolonialen Widerstands machte er auch zum Ausgangspunkt der von ihm kuratierten Berlin Biennale 2022. Im Gespräch mit den Architektinnen Charlotte Grace und Dubravka Sekulić diskutiert er, wie wir die Wunden, die die Moderne der Welt zugefügt hat, reparieren können.

Laut Émile Durkheim zerstörte der Kapitalismus nicht nur frühere Bindungen und Beziehungen, sondern schuf gerade durch die Arbeitsteilung in modernen Industriegesellschaften auch „ein neues Gefühl des Aufeinanderangewiesenseins“: „Zunehmende Dif­­fe­renzierung und Individualisierung einerseits und wachsende Solidarität andererseits […] wider­spra­­­­chen sich mithin nicht, sondern bedingten einander.“¹

Lange Zeit waren Architektur und Planung Werkzeuge der kolonialen kapitalistischen Ausbeutung von Menschen und Böden, argumentiert Paulo Tavares. 
Mit Markus Krieger und Alex Nehmer von ARCH+ diskutiert er, wie sich die Disziplinen dekolonisieren und stattdessen den Kämpfen indigener Gemein­schaften für die Reparatur der Erde anschließen können.

Noch aus St. Petersburg sprach die Philosophin Oxana Timofeeva Anfang Juli 2022 mit Alex Nehmer, Milica Topalović und Nazlı Tümerdem, bevor sie später Russland verlassen musste. Welche Möglich­keiten des Widerstands bleiben unter totalitären Regimen? Kann Solidarität eine Antwort auf die in mehrfacher Hinsicht katastrophalen Zeiten sein, in denen wir leben?

Lange galten im westlichen Mainstream staatliche und marktwirtschaftliche Kontrolle als die einzigen Wege, mit natürlichen Ressourcen umzugehen. Elinor Ostrom hingegen konnte nach langjähriger internationaler Forschung 1990 belegen, dass viele Gemeinschaften weltweit auf andere Institutionen zur Verwaltung ihres Gemeinguts an Naturreichtümern vertrauen.¹

Text: Antonia Agreda, Liliana Armero, Pablo Cuchalá, Santiago del Hierro, Agripina Garreta, Álvaro Hernández Bello, Yeni Yolanda Jacanamijoy, Pedro Jajoy, Mariela Pujimuy

Unterstützung bei der Transkription: Lizeth Córdoba

Obwohl die Ursachen der aktuellen Probleme der Architektur weit zurückreichen, haben sich Architekt­*innen in der Vergangenheit wenig mit den internen Krisen 
ihrer Disziplin auseinandergesetzt. So blieb einerseits ihre Allianz mit den extraktiven Praktiken der Bau­industrie und des Immobilienmarktes und andererseits die diesen eingeschriebenen Ungleichheiten hinsichtlich Race, Klasse und Geschlecht lange unan­getastet.

Die Architektur und ihre Arbeiter*innen, Studierenden, Institutionen sind von Burn-out betroffen. Von der Weltgesundheitsorganisation als „arbeitsbedingtes Phänomen“ anerkannt, kann Burn-out nicht nur als physischer oder psychischer, sondern vielmehr als historisch spezifischer Zustand betrachtet werden. Als ein Kipppunkt, an dem der Körper sich schließlich weigert, sich weiterhin der herrschenden ausbeuterischen Logik des kapitalistischen Produktionssystems zu unterwerfen.