06/2014

Get Real! Die Wirklichkeit der Architektur

Modell eines Atriums © Behnisch & partner

Der Ausgangspunkt dieser Ausgabe ist der Beitrag der deutschen Generalkommissare, Alex Lehnerer und Savvas Ciriacidis, für die 14. Architekturbiennale in Venedig. Mit der Installation Bungalow Germania haben sie Teile des gläsernen Bonner Kanzlerbungalows von Sep Ruf aus dem Jahr 1964 im Maßstab 1:1 im deutschen Pavillon in Venedig nachgebaut. Dieser auf den ersten Blick einfache räumliche Eingriff wirft eine Reihe grundlegender Fragen auf, die die Architektur und das Selbstverständnis der Disziplin betreffen. Wir behandeln sie in zwei Themenkomplexen: Architektur der Macht, Macht der Architektur.

Die Installation im deutschen Pavillon, die zwei Extrempositionen der deutschen Repräsentationsarchitektur materiell miteinander verschneidet, dient uns hier als Ausgangspunkt für eine umfassendere Diskussion über die Wirkmacht der Architektur. Damit berühren wir eine aktuelle philosophische Debatte, die zugleich eine lange Tradition in der Architektur hat: die Debatte zum „Neuen Realismus“.

Bilinguale Ausgabe

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Editorial

Anh-Linh Ngo, Nikolaus Kuhnert

Editorial

8–11

Die philosophische Neuausrichtung des neuen Realismus auf eine Welt, die sich nicht um die menschliche Sichtweise kümmert, könnte dabei helfen, mit dem (selbst)zerstörerischen, eben weil anthropozentrischen Denken zu brechen. Statt der Verantwortungslosigkeit der Losung „nach uns die Sintﬂut“ ruft er zu einer neuen ethischen Haltung auf: nach uns die Welt der Dinge. Get real!

Projekt

Sep Ruf, Vincent Meyer-Madaus

Kanzlerbungalow

14–15

Der von Ruf entworfene Bungalow setzt sich aus zwei einander überschneidenden Quadraten zusammen: Beherbergte das kleinere die bescheidenen, introvertierten privaten Wohnräume des Kanzlers, so war das größere für offizielle Empfänge reserviert.

Essay

Thilo Hilpert

Der Kanzler-Bungalow

16–23

Die unliebsame Erinnerung, die wohl nicht allein architektonischer Natur war, „auszulöschen“, bedeutete aber praktisch das zu betreiben, was Psychologen „Verdrängung“ nennen. Keine geringere Aufgabe waren den „Glaswänden des neuen Bauens“ beim Kanzlerbungalow auf nationaler Ebene zugewiesen.

Projekt

Egon Eiermann, Sep Ruf, Jesse Coburn

Deutscher Pavillon, Brüssel

24–25

Die Bandbreite dieser Kontroverse spiegelte die Ambivalenz wider, die dem Entwurf selbst innewohnte: Sofort als Ausdruck eines neuen demokratischen Deutschlands gefeiert, zeigte der Pavillon genauso deutlich die Schwierigkeit, für diesen Prozess eine angemessene architektonische Ausdrucksweise zu finden.

Essay

Stephan Trüby

Poststressale Domestizität

26–33

Liegt hierin die Schubkraft des Metabolismus und der theoretische Schlüssel zur kulturellarchitektonischen Produktion in Japan nach dem Zweiten Weltkrieg? Und liegt hierin der große Unterschied zu Deutschland, das ein „Project Germany“ analog zum „Project Japan“ im Sinne eines nationalistischen Aufbauprojekts nicht kannte?

Essay

Olaf Asendorf

Die Kanzlerbunker

34–39

Heute sind der Rest des Regierungsbunkers und die Luftschutzräume des Kanzlerbungalows Zeugnisse zeitgeschichtlicher Prozesse, die noch lange nicht abgeschlossen sind.

Essay

Carola Ebert

Die Pavillonisierung des Bungalows

40–51

Und doch wird das Bungalow-Pavillon-Motiv in der räumlichen Installation weiter zu gespitzt: durch den teils überdetaillierten Nachbau und seine Materialität wird die Wirklichkeit einer repräsentativen, aber auch wohnlichen Moderne konfrontiert mit einem ganz anderen Verständnis von Repräsentation, mit der materiellen Wirklichkeit des deutschen Pavillons.

Essay

Ole W. Fischer

Im Schatten der Vergangenheit

52–62

Darin liegt das Wagnis aber auch der große Verdienst dieses Beitrages, da Ciriacidis und Lehnerer eine ortsspezifische Installation im Medium der Architektur liefern, und, wie die Interventionen der Konzeptkünstler, den deutschen Pavillon als eine Schicht in ihr Werk mit einbeziehen statt ihn als neutralen Ausstellungscontainer zu übergehen.

Essay

Georg Vrachliotis

Transparenz als politisches Psychopharmakon

63–65

Es muss eine kuriose Situation gewesen sein. Fast wünscht man sich, man wäre mit dabei gewesen und hätte aus nächster Nähe beobachten können, wie die ungeduldigen Massenmedien vor dem wuchtigen Staatskörper in die Knie gingen und sich vor ihm auf dem ﬂauschigen Teppich räkelten.

Essay

Heinrich Klotz

Ikonologie einer Hauptstadt

66–75

Bonn als provisorische Hauptstadt der Republik hatte von Anfang an auf ein Darstellungsmittel verzichten wollen, das üblicherweise die sichtbaren Signale neu gegründeter Staaten setzt, auf die Architektur.

Projekt

Behnisch Architekten

Behnisch & Partner: Bundesbauten, Bonn

70–72

Der Versuch, durch die Atrien die demokratische Interaktion von Individuum und Menge im Bundeshaus zum Ausdruck zu bringen, wirkt ambitionierter als die bisherigen Bemühungen um eine bundesrepublikanische Repräsentationsarchitektur.

Projekt

Egon Eiermann, Simon Schulz

Kanzlei der deutschen Botschaft

76–77

So entstand ein „unrepräsentativer Repräsentationsbau“, der ganz der neuen bundesdeutschen „Haltung der Zurückhaltung“ entsprach.

Essay

Kenneth Frampton

Im Namen des Vaters

78–79

Während das eine Gebäude danach trachtet, sich symbiotisch mit der natur zu vereinigen, steht das andere unnahbar da, um auf eine angeblich gefügige und befriedete Welt zu blicken.

Projekt

Oswald Mathias Ungers, Simon Schulz

Residenz des deutschen Botschafters

80–81

Während diese Pfeilerhalle den Unmut vor allem deutscher Kritiker hervorrief, die sich an die pompöse Machtarchitektur des Nationalsozialismus erinnert fühlten, fiel das internationale Urteil über Ungers’ Entwurf überwiegend vorteilhaft aus.

Essay

Karin Wilhelm

„Abschied von gestern“

82–85

In diesem Sinne hält die Leerstelle vor dem Bundeskanzleramt, das abwesende Bürgerforum, die Erinnerung an den aufrüttelnden Gedanken Willy Brandts wach: „Mehr Demokratie wagen.“

Projekt

Schultes Frank Architekten

Schultes Frank Architekten: „Band des Bundes“, Berlin

86–87

Zugleich setzt die Ost-West- Ausrichtung einen bewussten Kontrapunkt zur Nord-Süd-Achse, die Albert Speer für Germania, die projektierte Hauptstadt des Dritten Reiches vorgesehen hatte.

Project

Stephan Braunfels Architekten

Paul-Löbe-Haus, Berlin

88–89

Dem Bild des Bandes erwies Braunfels mit einem imposanten Vordach seine Reverenz, das den westlichen Zugang markiert und eine visuelle Verbindung zum gegenüberliegenden Kanzleramt herstellt.

Projekt

Foster and Partners, Rob Madole

Umbau des Reichstagsgebäudes

94–95

Neben der Ingenieurleistung ist es aber gerade das architektonische Narrativ, das den Entwurf zu einer Ikone der Berliner Republik werden ließ.

Projekt

Schultes Frank Architekten, Stephan Redeker

Bundeskanzleramt

96–97

Den flachen Nutzbau, der laut Helmut Schmidt „den Charme einer rheinischen Sparkasse“ versprühte, ersetzten die Architekten durch einen Repräsentationsbau, der einerseits durch schiere Größe beeindruckt und andererseits darum bemüht ist, der Architektur eine mediale Wirkung zu verleihen, die so etwas wie Leichtigkeit suggeriert.

Essay

Dieter Hoffmann-Axthelm

Bildfreie Macht und Machtverzichte der deutschen Politik

98–101

Im „Band des Bundes“ fand sie ein Instrument, um in Berlin zu bauen, ohne in der Stadt Berlin anzukommen und anwesend zu sein. Alles übrige, die Würstchenbude vor dem Brandenburger Tor oder das Café Einstein Unter den Linden, ist Mythologie. Der Regierungsbereich, denkbar sprachlos und damit problemlos zu besichtigen, ist vor allem eines: unübersehbar exterritorial.

Projekt

Peter Eisenman Architects, Sara Lusic-Alavanja

Denkmal für die ermordeten Juden Europas

102–103

Es sind die Varianzen in Höhe und Ausrichtung der Stelen, die aus dem digitalen Entwurfsprozess abgeleitet sind und einen Raum konstituieren, der bar jeder Verlässlichkeit ist.

Timeline

Vincent Meyer-Madaus, Felix Rebers, Achim Reese

Realismus in der Architektur

106–113

Essay

Robert Burghardt

Ein neuer Realismus

114–121

Um aus den Fallstricken von Ohnmacht und Allmacht herauszukommen, müsste es darum gehen, die Realität mit all ihren Widersprüchen und Widerständen als Ausgangsmaterial zu nehmen und im Entwurf produktiv zu machen – ohne am Schluss bei einer platten Abbildung dieser Widersprüche herauszukommen.

Essay

Maurizio Ferraris

Die Grenzen der Architektur

122–131

Es ist das Werk des Realismus in jedem Bereich, die Grenzen zu klären, sie eingehend zu betrachten, sich mit ihnen auseinander zu setzen, auch des Realismus in der Architektur.

Projekt

Gino Levi Montalcini, Felice Bardelli, Domenico Morelli, Sergio Hutter

Palazzo Nuovo, Turin

126–127

Seit seiner Fertigstellung war und ist der großmaßstäbliche Bau immer wieder Gegenstand kontroverser Diskussionen, nicht zuletzt im Hinblick auf seine Beziehung zur umgebenden Bebauung.

Essay

Lars Frers

Grenzregionen der Materialität

132–139

Die Nutzung von Materialien für den in den deutschen Pavillon eingesetzten Kanzlerbungalow, die den gleichen Eindruck erzeugen wie die originalen Baustoffe, ermöglichen eine Kollision von unterschiedlichen Erfahrungsräumen, brechen den Bewegungssinn, der die Besuchenden sonst durch den Pavillon trägt.

Essay

Andreas Rumpfhuber

Wenn die Realität die Utopie überholt

140–155

Die Ironie ist aber nicht nur beim Springer-Vorstand zu beobachten. Auch der Wettbewerbsbeitrag von Koolhaas ist durchzogen von ironischen, wenn nicht gar zynischen Elementen und Bezügen, die uns erahnen lassen, dass auch Koolhaas seine Zweifel an dem Projekt haben könnte.

Essay

Christa Kamleithner

Was Architektur macht

156–169

Der Architektur kommt darin die Rolle zu, verschiedene Akteure zu versammeln und zwischen ihnen zu vermitteln – und ebenso agieren Architekten und Architektinnen nicht souverän, sondern sie sind Übersetzer und „Mittler“, die „Gelegenheiten, Umstände und Präzedenzfälle“ bereitstellen.

Essay

Joaquín Medina Warmburg

Eine Schiebetür ins Leben: Der Bungalow als Biorealität

170–175

Neutras Schriften und Bauten machen deutlich, wie sehr der sogenannte Bungalow für ihn einem Natur und technische Zivilisation versöhnenden „Psychotop“ gleichkam. Als „Lebensszenerie“ setzte er sich maßgeblich aus technisch reproduzierbaren Architekturbildern zusammen.

Zeitung

Jesse Coburn

Markus Draper at the Berlinische Galerie

176–177

Markus Draper, a Berlin-based artist with a decidedly architectural body of work, picks up where Ballard left off.

Zeitung

Gerrit Terstiege

Lauf der Dinge

177

Konstantin Grcic gehört zweifellos zu den renommiertesten Designern der Gegenwart: Zahlreiche seiner Entwürfe, wie der „Chair One” oder die Leuchte „Mayday”, wurden mit Preisen ausgezeichnet und in museale Sammlungen in Europa und den USA aufgenommen.

Zeitung

Niloufar Tajeri

Forensis – Ästhetik der politischen Einmischung

178–179

Was in der (mittlerweile zu Ende gegangenen) von Anselm Franke und Eyal Weizman kuratierten Ausstellung Forensis zuerst auffällt: Obwohl Machtmissbrauch und Menschenrechtsverletzungen die Themen sind, wird kein Mitleid seitens der Besucher heraufbeschworen.

Zeitung

Elke Krasny

Tausche Krise gegen Stadt

179

Der Campo de Cebada (zu dt. Gerstenfeld) ist eine „offene Gemeinschaft aktiver Bürger“, die aus einer Auseinandersetzung um die Wiederherstellung einer ungenutzten Fläche an der Plaza Cebada in Madrid hervorging.

Features

Martino Stierli, Savvas Ciriacidis, Alex Lehnerer

Bungalow Germania

182–197

Martino Stierli im Gespräch mit den Generalkommissaren des deutschen Pavillons, Alex Lehnerer und Savvas Ciriacidis. Martino Stierli in conversation with Alex Lehnerer and Savvas Ciriacidis, the commissioners of the German Pavilion.