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ARCH+ 204 – ONLINE ZEITUNG: Politische Räume

Ein Gespräch zwischen Markus Miessen (MM), Patricia Reed (PR), Kenny Cupers (KC), Magnus Nilsson (MN) und Ralf Pflugfelder (RP)

Die vollständige Ausgabe ARCH+ 204: Krise der Repräsentation finden Sie in unserem Archiv.

 

Einführung:

Die Winter School Middle East (WSME) führt in Zusammenarbeit mit lokalen NGOs, Schulen und Individuen regelmäßig Kultur- und Bildungsaktivitäten durch und bietet so eine lokale Plattform für kritischen Austausch. 2007 als mobile Wandereinrichtung konzipiert, hat sie seit ihrer Gründung eine Reihe von Workshops, Seminaren und Kursen veranstaltet. 2010 siedelte sich die Schule in Kuwait an und verfolgt damit das Ziel, eine langfristige Einbindung in lokale Kontexte zu erreichen. Die Intensivworkshops suchen den Austausch mit ortsansässigen Initiativen und stellen Entwurf und Diskussion in den Dienst einer konzeptuellen und zugleich räumlich-experimentellen Forschung. Studenten und Betreuer arbeiten in bis zu zehnköpfigen Teams, die individuell und gemeinsam Projekte entwickeln. Die Ergebnisse müssen der Kritik der Gruppe, aber auch den Ansprüchen der lokalen Akteure standhalten.

Kuwait besitzt eine unerwartet lebendige Zivilgesellschaft und das politische und kulturelle Umfeld gestaltet sich relativ liberal. Für den politischen Austausch existieren traditionelle Plattformen wie die „Dewaniyah“. Der Begriff stammt aus dem Persischen (Diwan = Magistrat, Minister oder Dewana = Zivilgericht) und bezeichnet im aktuellen Sprachgebrauch einen Ort, an dem sich traditionellerweise Männer über politische und gesellschaftliche Themen austauschen. In Kuwait umschreibt der Begriff sowohl den Raum für öffentliche Empfänge als auch die Zusammenkünfte selbst, die dort stattfinden. Besuch von und Einladung zur Dewaniyah ist ein unverzichtbarer Bestandteil des sozialen Lebens eines kuwaitischen Mannes.

Im Bereich der Architektenausbildung im Nahen Osten spielen die Betrachtung solcher alltagspraktischen Raumerfahrungen, des städtebaulichen Kontextes oder die diskursive Annäherungen kaum eine Rolle. Man begnügt sich mit einer, meist an ausländische Büros angepassten, formbasierten Stadtplanung und einem klassischen Architekturverständnis. Es besteht daher ein wachsender Bedarf, die lokale Sachkompetenz jenseits der klassischen westlichen Auffassung zu integrieren, um den spezifischen Bedingungen gerecht zu werden. MM 

Das folgende Gespräch ist ein Auszug aus einer längeren Diskussion, die im Januar 2011 in Kuwait als Nachbetrachtung des Workshops aufgezeichnet wurde.

MM: Die Dewaniyah, über die wir während der Winteruni diskutiert haben, lässt sich einerseits als räumliches Phänomen, andererseits als Prozess betrachten. Sie bietet einen „geschützten Raum“, um politische Standpunkte zu diskutieren. Damit bildet sie eine Raumzelle, von der aus die Bürgerschaft auf die formelle Politik einwirken kann. Die WSME ist in ähnlicher Weise als autonomer Raum konzipiert, von dem aus eine andere Perspektive und ein erneuertes Verständnis gemeinschaftlicher Alltagspraxis möglich ist. Patricia, wie würdest Du die Dewaniyah als theoretisches Problem beschreiben?

PR: Was wir bei unserem Aufenthalt in Kuwait feststellen konnten, war zunächst die Mehrdeutigkeit des Begriffs Dewaniyah. Sie ist nicht als statische Einheit, sondern als ein formbares Gebilde aufzufassen. Wenn wir beispielsweise den Ausdruck vom „geschützten Raum“ aufgreifen, den Mary Ann Tétreault im Hinblick auf die Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit in der räumlichen Verfasstheit der Dewaniyah geprägt hat, können wir uns der räumlichen Problematik vielleicht durch weitere Fragen nähern: Vor wem ist die Dewaniyah geschützt? Wer ist durch die Dewaniyah geschützt? Wie setzt die Dewaniyah im Nomos des Alltags Grenzen der Ein- oder Ausschließung?

KC: Ja, ich denke diese Fragen können helfen die „Black Box“ der Dewaniyah zu öffnen. Als Zusammenkunft kuwaitischer Männer ist sie eine stark genderbestimmte Praxis, wohingegen das System der Gastfreundschaft mehrdeutig ist: Es erzeugt sowohl explizite Offenheit als auch implizite Abgeschlossenheit. Die Teilnehmer der Winter School sind Außenstehende - entweder Frauen oder Nicht-Kuwaitis (oder beides) – ihr Blick fällt daher zunächst auf Mechanismen der Exklusion und Integration. 

Weiter ist unser Verständnis der Dewaniyah vorwiegend von einem abstrakten Konzept und nicht von einer Alltagspraxis geprägt. Mohammed Al-Ghanim – einer der eingeladenen öffentlichen Gastredner und Beamter im nationalen Parlament – hat erklärt, wie die Dewaniyah in der kuwaitischen Gesellschaft aufgefasst wird. In entscheidenden Momenten der Geschichte Kuwaits hat die Dewaniyah politische Auseinandersetzungen ausgelöst und ist dementsprechend in das kollektive Gedächtnis eingegangen – ungeachtet der Frage, ob diese Initiativen tatsächlich zu politischen Erfolgen oder zu Fehlschlägen führten.

MM: Könnte man die Dewaniyah in diesem Sinne mit der Agora in der westlichen Kultur vergleichen? 

KC: Die Dewaniyah scheint im kollektiven Bewusstsein einen Hort der Tradition auszumachen und könnte doch gleichzeitig ein Akteur sein, der die kuwaitische Modernisierung entscheidend beeinflusst. Einige aktuelle Angebote der Dewaniyah wie ein Playstationraum für Jugendliche stützen diese Hypothese. Für mich liegt der faszinierendste Aspekt der Dewaniyah gerade in solchen scheinbaren Widersprüchen. 

MM: Was bedeutet dies für die Potentiale der Dewaniyah, in einem informellen Umfeld ein privates und zugleich öffentliches soziales Netzwerk zu erzeugen? Welche ungeschriebenen Gesetze definieren diesen Raum und seine Potentiale?

MN/RP: Die Studenten sollten eine eigene Dewahniyah als Kommunikationsplattform in einem der Höfe der Uni entwerfen. Die Gruppe bestand aus kuwaitischen Frauen und Europäern. Obwohl sich jeder sehr offen verhielt, fiel ins Auge, dass wir in dieser Umgebung durchweg Fremde waren und eigentlich keine Aussicht auf wirkliche Teilhabe hatten. Dieser Eindruck war bei allen Teilnehmern sehr stark und trat in unterschiedlicher Form bei sämtlichen Projekten zutage. Viele versuchten, individuelle Räume innerhalb der Dewaniyah einzurichten, um sich dem räumlichen und sozialen Druck, der ihrer Wahrnehmung nach von den Männern ausging, zu entziehen. Andere Ansätze wollten das formale Gefüge der Dewaniyah aufbrechen, indem sie deren empfundene Starrheit mit Maßnahmen von außen zu erschüttern suchten.

MM: In einigen Seminaren haben wir die Differenzierung zwischen Politik und dem Politischen aus der Sicht von Chantal Mouffe und Jacques Rancière diskutiert. Würdet ihr zustimmen, wenn ich die Dewaniyah im Sinne Mouffes als einen Raum bezeichne, in dem Einigkeit zur Uneinigkeit herrscht, einen Raum des gewaltfreien Aufeinandertreffens potentieller Opposition, eine Plattform für gemeinsame Sinnbildung zur Formierung einer politischen Gemeinschaft?

PR: Das hängt davon ab, wie man das „Politische“ bei Mouffe versteht. Ihr zum „Agonismus“ heruntergepegelter Antagonismus verlangt, dass wir uns alle auf eine gemeinsame Grammatik der Uneinigkeit einigen – mir geht ihre Theorie nicht weit genug.

Für Rancière hingegen besteht die wahre Uneinigkeit darin, gerade diese als sinnbildend geltende Grammatik anzufechten.

Die Dewaniyah wäre damit noch in der etablierten symbolischen Ordnung dessen befangen, was in Rancières Sprache "die Polizei" heißt und würde daher keinen politischen Ausbruch darstellen. Sie instituiert eine hohe Normativität von Verhaltenskodizes, das Ethos der gemeinsamen Plattform. Innerhalb eines Mouffe'schen Paradigmas könnte man dies positiv wenden. Es könnte sich dann in der Dewaniyah tatsächlich eine bestimmte Personengruppe versammeln, um zu debattieren und eine gegen bestimmte Hegemonien opponierende Position zur Geltung zu bringen. Sie kann zusammentreten und diskutieren, weil in ihr bereits Konsens besteht über eine normative Grammatik. Diese Gruppe wäre dann zwar nicht allen zugänglich, könnte aber dennoch zugunsten einer politischen Vielfalt produktiv werden.

KC: Ich halte es für wichtig, der Dewaniyah keine Theorie überzustülpen, die ihre räumliche und politische Komplexität einengt. Ich denke nicht, dass es überhaupt möglich ist, die Dewaniyah – als Raum, Phänomen oder Geschehen – mit den Kategorien Mouffes oder Rancières in Übereinstimmung zu bringen. Historisch ist die Dewaniyah in unterschiedlichsten Momenten als politischer Akteur aufgetreten. Sie kann sowohl eine Institution der konventionellen Politik (für die privilegierte Gruppe kuwaitischer Männer) werden als auch ein Akteur politischer Auseinandersetzung und gesellschaftlichen Wandels, für den Frauen und Jugendliche fortan eine Schlüsselrolle spielen werden. 

Aus dem Englischen von Stefan Barmann