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ARCH+ features

ARCH+ features: Yona Friedman

Im Rahmen einer Interviewreihe von Tomaat WebTV entstand, neben Berichten zu Charles Jencks, Oscar Niemeyer und Herman Hertzberger, auch eine Dokumentation zu Yona Friedman. Das Interview zwischen Rajan V. Ritoe und Yona Friedman wurde 2010 in der gemeinsamen Ausstellung EURO-CITY im von Isolde Nagel kuratierten A trans Pavilion in Berlin gezeigt.

 

Yona Friedmann – Architekt der Ideen

Von Wissenschaftlern erwartet man, dass sie publizieren, von Architekten, dass sie bauen. Aber auch das reine Konzept kann in der Architektur von entscheidender Wirkung sein. Die Bedeutung des Architekten Yona Friedman, geboren 1923, liegt in seiner Wirkung als „Architekt der Ideen“ und in deren Interaktion mit den zentralen Strömungen der Architektur des 20. Jahrhunderts.

Friedman führt viele seiner Ideen auf Erfahrungen der Nachkriegszeit in seiner Heimatstadt Budapest zurück. Damals waren für Friedman scheinbare Gewissheiten durch die vorangegangenen Ereignisse zerstoben. Diese persönliche Situation traf zusammen mit einem Interesse für die Vorlesungen Werner Heisenbergs über die Quantenmechanik und die Unschärferelation. Friedman war fasziniert von dem Gedanken, dass ein Experiment vielfältige Ergebnisse haben kann. Er gelangte zu der Überzeugung, dass es kein auf messbaren Eigenschaften basiertes Design für den Durchschnittsmenschen oder die Gruppe geben konnte.

Friedman entwickelte in den 1960er Jahren eine Methode zur Beschreibung menschlichen Verhaltens in der Stadt, den Mécanisme urbain: „Die Grundidee besteht darin, dass es Hindernisse gibt und dass die Menschen ihre Wege in einem Labyrinth voller Hindernisse zurücklegen … Und über ihre Fortbewegungen weiß man nichts. Auf der einen Seite tritt jemand in das Labyrinth ein, auf der anderen Seite tritt jemand heraus, ob es dieselbe Person ist, weiß man nicht. Man kann eine Hypothese aufstellen, dass die Menschen alle möglichen Wege des Labyrinths benutzen werden.“ Seine Ideen setzt Friedman mit Feynmans Modell zur Bewegung von Atomen und der Modellierung physikalischer Prozesse mit Hilfe des Computers in Beziehung. In der eigenen Disziplin stießen Friedmans Gedanken damals jedoch auf geringes Interesse.

In Absetzung von der Moderne und ihren Bestrebungen zu Industrialisierung und Normierung lehnt Friedman eine auf Maßsystemen basierte Architekturauffassung ab. Er unterstreicht, dass die Mathematik zwar Ergebnisse produzieren kann. Die Ereignisse aber entfalten sich in ihrer eigenen Logik und können (noch) mit keinem mathematischen Schema erfasst werden. Architektur soll für Friedman etwas Anderes sein als „angewandte Geometrie“. Durch feste Fundamente fixiert kann sie schnell zum Hindernis werden: „Die reale Stadt ist nicht fixiert. Schau Dir die Leute auf der Straße an. Es ist unmöglich, zu sagen, wohin der einzelne gehen will. Es gibt keine Regel.“ Daraus leitet er ab, dass die Architektur keine Verbote aufstellen, sondern dem Menschen Beteiligung ermöglichen solle.

Der Wunsch nach Freiheit ist zentral für Friedmans Werk. Freiheit bedeutet für ihn zweierlei: die Freiheit, das eigene Lebensumfeld ohne architektonische Restriktionen zu gestalten und das Recht auf Freizügigkeit. Die Ideen zur Freizügigkeit begründen Friedmans Interesse an Netzwerken. Infrastrukturen wie grenzüberschreitende Schienennetze und Brücken zwischen Kontinenten faszinieren ihn (siehe auch ARCH+ 196/97), da sie die den Bewegungsradius vergrößern.

Friedmans Ideen bündeln sich in der Ville spatiale, seinem bekanntesten Projekt. Friedman nutzt dafür ein Raumfachwerk, wie es durch die Entwürfe Konrad Wachsmann in den 1950er Jahren berühmt wurde, hebt diese Struktur jedoch auf ein neues Niveau: Ihr Inneres soll durch die Benutzer gestaltet werden und den Bewohnern die Freiheit bieten, alle möglichen Wege einzuschlagen. Die Rolle des Architekten bei der Planung der Stadt sieht Friedman als begrenzt an: „Ich kann keine Zeichnung der Ville spatiale machen, nur von der Infrastruktur … der Architekt soll ein passiver Teilnehmer sein. Die Menschen sollen alles schaffen, einfach und ohne große Reflexion.“

 
 
 
 
 
 
 

Nur wenige von Friedmans Projekten sind realisiert worden. Aber sie sind vernetzt mit den Ideen und Entwicklungen des 20. Jahrhunderts. Archigram, Constant Nieuwenhuys und die japanischen Metabolisten vertraten zeitgenössisch ähnliche Ideen zum Nomadischen und zu temporären Einrichtungen. Das Gebäude des Centre Pompidou in Paris etwa griff einige der hier entwickelten Prinzipien auf. Adaptionen der Ideen Friedmans finden sich noch heute vielfach in den Entwürfen zukunftsorientierter Architekturbüros oder junger Architekten. Mit seinem Konzept eines vernetzten Europas hat Friedman die Entwicklung der Schnellzugverbindungen und Projekte wie etwa das Euralille Zentrum von OMA (1990-94) vorgedacht.

Unsere Kultur ist zwar voll von – meist ikonischen und warenförmigen – Bezügen auf die Geschichte. Die Aufmerksamkeit für ideengeschichtliche Entwicklungen ist jedoch weniger geschärft. Das Werk Friedmans, das sich dem Mainstream verwehrt, bietet hierfür einen idealen Schlüssel.

Rajan V. Ritoe

Aus dem Englischen von Cornelia Escher

Siehe auch
www.tomaat.org
www.atrans.org