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Lisbon Diaries: Donnerstag, 18.11.2010

Heute ist der Tag des Urbanen! Wir wagen uns zum Complexo das Amoreiras, einem ehrlichen postmodernen Arbeits-, Wohn- und Konsum-Tempel. In der Nachbarschaft gibt es natürlich noch mehr Büro-Ungetüme.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Der Bau liegt fast an einer Schnellstraße, hat 1.000 Tiefgaragen-Parkplätze und gilt als vorbildlich, weil er auf den 58.000 qm nicht nur Läden, Restaurants und Kinos hat, sondern auch großzügige Flanierflächen. Verkündet zumindest der Architektur-Führer von 1994, den ich bei der Architektenkammer gekauft habe. Ein aktuellerer ist jetzt erst in Arbeit, soll im nächsten halben Jahr auf den Markt kommen.

Die Lage des Komplexes ist faszinierend, auf der erhöhten Position ist er auch von Ferne allgegenwärtig, liegt zudem direkt in der Einflugschneise des Flughafens. Das Äußere des Ensembles lässt sich schwer in Worte fassen, und wenn, dann wahrscheinlich nur mit einem postmodernen Fachjargon erträglich.

Im Shopping-Center ist die Hölle los, wir sind zur Mittagszeit gekommen. Alt und jung isst und kauft, in Gruppen oder alleine. Die Herren in Anzügen tragen meist Krawatten mit den Logos ihrer Arbeitgeber, die Damen sind nicht so uniformiert.

Die Erschließungsflächen sind von allerlei Ständen – von der Mini-Eisenbahn bis zu Promotionsboutiquen mit lautem Disko-Geträller – verstellt. Die Weihnachts-Dekoration ist kitschig und üppig. Einige wollen diese Oase der Unwirklichkeit abreißen, andere, wie Nuno Cera, lieben dieses Gebäude. Die Farben seien sehr schön bei Sonnenuntergang. Ich finde, das Gebäude muss unter Denkmalschutz gestellt werden. Denn es entstand kurz nach dem EU-Beitritt 1986 und symbolisierte damals, dass Portugal nun zu den konsumfähigen Industrieländern gehört. Europäische Zeitgeschichte sozusagen.

Das gleiche gilt für die Bebauung rund um die Praça Martim Moniz, links und rechts je ein Einkaufszentrum, unten das Hotel "Mundial", dazwischen ein lebloser Platz mit angeranztem Brunnen, alles very Eighties. Manchmal denke ich, dass Studenten-Exkursionen nicht zu den Highlights, den schon erwähnten 1%, sondern zu den "Bitte nicht so machen"-Orten führen sollten.

Wir sind dort zufällig ausgestiegen, wollten eigentlich die andere U-Bahn-Linie zur Avenida da Liberdade nehmen, um uns die Ausstellung "Futureland" von Nuno Cera anzuschauen. Die Schau ist in einem der wenigen niedrigen Gebäuden aus dem 19. Jahrhundert an dieser Prachtstraße. Es gehört einer Bank und soll irgendwann abgerissen werden, bis dahin können Künstler dort als Zwischennutzer unterkommen.

Neun Städte hat der Künstler bereist, in dieser Reihenfolge: Istanbul, Kairo, Dubai, Los Angeles, Mexiko City, Schanghai, Hongkong, Jakarta und Mumbai. Und hat jede mit einem persönlichen Film eingefangen, bei den meisten die Stadtränder, die Wachstumszonen.

Kairo erscheint bei ihm vorstädtisch-surreal, ein gerade fertig gestelltes, noch nicht bezogenes Wohngebiet hat er portraitiert. Das in der parallel zur Filmpräsentation in seiner Galerie gezeigte Foto wirkt wie gemalt, die Straße noch im selben erdigen Farbkanon wie das Einfamilienhausglück.

Mumbai zeigt sich verslumt, das Foto die Poesie von Müll. Die Kennzeichen von Hongkong und Jakarta sind die vertikalen Stadtränder aus Hochhäusern; in Hongkong gepaart mit Kopie einer europäischen Vorstadtkopie. Mexiko City wird als fast grenzenloser Teppich im Helikopter-Überflug erkundet – eine halbe Stunde 600 €. Dubai und Los Angeles erleben wir hauptsächlich fahrend. In Istanbul hingegen begleiten wir einen jungen Mann, er scheint auf der Suche. Wonach, erfahren wir nicht.

Zurück auf der Straße wirken die Filme noch lange nach. Ich nehme alles in Zeitlupe wahr, habe das Gefühl, nicht und doch gerade hier zu sein.