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Lisbon Diaries: Mittwoch, 17.11.2010

Heute sind wir viel gelaufen, vom Bairro Alto bis zu den Fundamenten der Ponte 25 de Abril, der zweitlängsten Hängebrücke mit kombiniertem Straßen- und Eisenbahnverkehr der Welt. 1864 wurden hier Fabrikgebäude eines Stoffherstellers erbaut, vor ein paar Jahren hat sich die Kreativwirtschaft niedergelassen, benannte das Gelände "LX factory" und zog Restaurants, Galerien, Buchgeschäfte nach sich. Als Berliner fühlten wir uns gleich heimisch, wahrscheinlich ein ähnliches Gefühl wie Mallorca-Urlauber beim Eisbein.

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 

Dann vier Stationen mit der Tram zum Museu da Electricidade, hier ist ein weiterer Ausstellungsort der Trienal – direkt am Tejo gelegen – der auch schon das letzte Mal bespielt wurde. Die riesige quirlige Schülergruppe vor uns biegt nach rechts ab, um in die Stromtechnik eingewiesen zu werden, wir steigen die Treppe in den temporären Ausstellungsraum hinauf.

Die vorab bekannten Pressefotos der Ausstellung irritierten: Ein Haus, vier Wände mit Giebeldach, davor auf weißem Fusselteppich blümchenförmige weiße Präsentationstische. Aber beim Besuch stellt sich die Ausstellungsarchitektur als gut heraus: Das Haus ist aus Kork, es ist der Eingang zur Ausstellung. Hier wird in akustisch angenehmer Situation ein Interview mit den Kuratoren der Wettbewerbsausstellungen gezeigt; man wird über die Vorbedingungen, die Überraschungen bei der Recherche und die Erwartungen an die Ergebnisse informiert.

Das Betreten des Teppichs macht physisch spürbar deutlich: Lass dir Zeit. Die braucht man auch, denn es sind sicherlich hundert Projekte versammelt. Die Blumeninseln erweisen sich als gut zugänglich, man kann sich abstützen und die Nase dicht an die Modelle halten. Der eine Teil ist ein Stundenwettbewerb zu Cova da Moura, einem informellen Bezirk am Rand von Lissabon, der andere ein großer Wettbewerb zum Thema „Wohnen für 25.000 €“ in den sich ständig verändernden Slums von Luanda, der Hauptstadt Angolas.

Außer den Interviews gibt es keine erläuternden Texte, jenseits der Präsentationstexte der Teilnehmer. Das ist schade, wir fühlen uns allein gelassen. Glücklicherweise habe ich mich bei meinem Lissabon-Besuch im Mai schon mit dem Thema des Studentenwettbewerbs beschäftigt und kann mit einem kleinen Referat helfen:

Google maps offenbarte bei der Vorbereitung auf Lissabon: Das Luftbild vom Großraum erzählt eigentlich eher wenig von der Stadt, da sich Hügel und Täler nicht abbilden, Geschoßhöhen nur durch Schattenwurf ablesbar sind und das soziale Leben sich dieser Sicht komplett entzieht.

Aber ein Blick auf Cova da Moura läßt den Unterschied zur Nachbarschaft sofort erkennen, hier gewachsene, dichte Morphologie, dort geplante, klare Struktur. Die Bezeichnung Cova da Moura verweist auf die gleichnamige Insel der Kapverden im Zentralatlantik vor der Westküste Afrikas. Cova da Moura gilt als Slum, als illegales Wohngebiet, mit hohem Ausländer- und Arbeitslosenanteil.

Die ersten Häuser entstanden nach 1974, dem Jahr der „Nelkenrevolution“, als Portugal gewaltfrei den Faschismus abschüttelte und gleichzeitig alle Kolonien aufgab. Die Region war noch bäuerlich, das Land gehörte einer Großgrundbesitzerfamilie, die die Grundstücke per Handschlag zur Verfügung stellte. Die Siedler waren einerseits Portugiesen, die mehr oder weniger fluchtartig und mit geringen finanziellen Mitteln aus den Kolonien zurückkamen. Gleichzeitig gab es schon eine größere Anzahl von Gastarbeitern von den Kap Verden, die als Bauarbeiter für den Bau der Hängebrücke über den Tejo gekommen waren, die nach deren Fertigstellung 1966 in Portugal geblieben waren, ihre Familien nachholten und nun größere Unterkünfte brauchten. Auch sie bauten hier erst Hütten, dann Häuser und ließen sich dauerhaft nieder. Cova da Moura ist durch Freundschafts- oder Blutsbande auch für heutige Übersiedler oft der erste Anlaufpunkt.

So entstand ein verbindliches Nachbarschafts- und Verwandschaftsnetz innerhalb der Siedlung, vergleichbar mit den stabilen Beziehungen in den Gecekondus, die die Stadtentwicklung von Istanbul nach dem 2. Weltkrieg prägten. Strom wurde Anfang der 80er-Jahre oberirdisch verlegt, die Kabel bündeln sich nun abenteuerlich an den Hausecken. Fast alle Gebäude sind heute in massiver Bauweise in Eigenregie erbaut und haben bis zu drei Geschosse; nur auf wenigen Parzellen stehen Baracken. Was positiv klingt, hat einen dicken Wermutstropfen, denn da das Viertel nicht gar so elend war, bekam es lange keinerlei Förderung.

Cova da Moura hat auch ein Gesicht und einen Namen: Lieve Meersschaert, gebürtige Belgierin, die vor 30 Jahren mit ihrem portugiesischen Mann hierher zog. Sie ist eine treibende Kraft im Viertel, war 1984 Mitbegründerin der Bürgerinititative „Moinho da Juventude“ (Mühle der Jugend). Ich traf sie diesen Mai in Cova da Moura und sprach mit ihr über die Entwicklung des Viertels.

Sie betonte, dass ihr Anteil an der Entwicklung im Viertel nur gering ist, über hundert Leute betreuen die verschiedenen selbstinitiierten und -organisierten Förderprojekte. Schwerpunkt der Arbeit ist einerseits die positive Identifikation der Zuwanderer mit ihren kulturellen Wurzeln durch Gesang und Tanz, dem traditionellen Batuque, ebenso wie der modernen Übersetzung in HipHop und Streetdance. Andererseits wurden konkrete Maßnahmen zur Verbesserungen der Lebensbedingungen klug strukturell und logistisch miteinander verknüpft: die Kinderkrippe ermöglicht den Müttern zu arbeiten, gleichzeitig werden hier Tagesmütter und Erzieherinnen sowie in der zugehörigen Küche Köche ausgebildet, nebenbei werden hygienische Standards vermittelt und verankert.

Seit ein paar Jahren hat sich Lieves Tätigkeitsfeld verändert. Sie macht Öffentlichkeitsarbeit, organisiert Führungen durch das Viertel, steht im Dialog mit Regierungsstellen. Leider hat aber der Bürgermeister von Amadora wenig Verständnis für informelles Bauen, für finanzielle oder kulturelle Nöte. Eine 2002 von der Stadt beauftragte Studie ergab, das 80 Prozent der Häuser baufällig seien und abgerissen werden müssten, Städteplaner legten eine abstrakte Planung ohne Bezug zum hügeligen Terrain vor. Eine andere Erhebung aber ergab, dass sich nur 15 Prozent der Häuser nicht als dauerhafte Bleibe eignen.

Die Trienal de Arquitectura de Lisboa lobte Anfang 2009 einen Wettbewerb für die Qualifizierung des öffentlichen Raumes des Viertels aus. Ein Jahr lang erarbeiteten Studenten Vorschläge, vom kleinmaßstäblichen Minimaleingriff bis zu neuen Wohntypologien oder dem Neubau von Markt- oder Kulturzentren.

Der erste Preis entwickelt sich aus einer sensiblen Beobachtung: Es gibt sehr verschiedene Weg- und Straßenbeläge im Quartier, der öffentliche Raum ist der Straßen- und Restraum. Es wird ein simples rechteckiges Bank-Element aus rotgefärbtem Beton vorgeschlagen, das an relevanten Stellen Raum zum Niederlassen bietet. Es ist kombinierbar mit einem Wasserkanal, der zu einer Baumscheibeninsel führt. Der Bodenbelag zwischen diesen Elementen wird wie bisher mit unterschiedlichen Materialien ausgeführt, was halt gerade da ist.

Eine benachbarte, nicht prämierte Arbeit hat uns als Idee auch überzeugt: Kunst, Kultur und Ökonomie ist das Thema. Kultur: An verwilderten Restflächen wird Agricultura Urbana etabliert. Urbane Landwirtschaft gehört auch heute schon zur Realität der Bewohner, nur nicht im Quartier, sondern etwas entfernt gelegen an der Schnellstraße. Kunst: Die zwei Hauptachsen im Quartier werden zu Kunstgassen, die Kunst ist das Graffity, so könnten sich lokale Sprayer positiv etablieren und werden vielleicht sogar für andere Orte angeheuert. Man kann aber auch verstehen, dass das Quartier sich einer solchen Romantik lieber verweigert.

Der Wettbewerb für "Housing in Luanada" für maximal 25.000 € Erstellungskosten, bei dem Innen und Außen als klimatische Qualität miteinander verknüpft werden sollten, hatte fast 600 Einsendungen. 30 sind hier ausgestellt, Einfamilienhäuser könnte man sagen. Hier ist der erste Preis eindeutig der erste Preis: Ein-Raum-Lehmstampf-Hütten mit überkragendem Pultdach als Grundmodule, die in gespiegelter Addition miteinander verschränkt werden. Aber auch hier überzeugt, wie bei allen anderen Beiträgen, die flächendeckende Siedlungsstruktur nicht wirklich.

Die Ergebnisse dieses Wettbewerbs werden nächstes Jahr in Luanda präsentiert und sind als Grundlage für einen konstruktiven Dialog von Bewohnern und Administration gedacht.

Große Erschöpfung macht sich breit, schnell zu den leckersten Süßigkeiten der Stadt geeilt, bei Pastéis de Belém, gleich hinter der Schnellstraße nah beim Kulturzentrum. Wir wollen uns setzen und gehen hinein: Der erste Raum ist voll, der zweite auch, den dritten finden wir nicht auf Anhieb, um dann aber im vierten, ganz hinten, dem größten, ein Plätzchen für uns zu ergattern. Die pastéis de nata werden in Belém nach einem Geheimrezept hergestellt (es geht das Gerücht, dass die Geschäftinhaber eine Sicherheitsvorkehrung getroffen haben, die besagt, dass sie sich nie an einem Ort aufhalten dürfen, damit das Geheimnis im Eventualfall überlebt). Das Gebäck ist hier einfach leckerer, d.h. blätterteigiger und vanilliger als anderswo. Das Geheimnis könnte aber auch einfach darin liegen, dass sie hier durch den hohen Umsatz immer ofenwarm serviert werden …