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Lisbon Diaries: Dienstag, 16.11.2010

Ein Nachtrag zur Ausstellung, manchmal braucht es eine Nacht zum sich Setzen. Gestern war der Kopf voll und die Finger irgendwann vor Hunger träge. Heute früh lag der Katalog neben dem Bett und ich begann zu schmökern.

 
 
 
 
 
 
 

Ein sehr lesenswerter Beitrag im Katalog reflektiert eine wichtige Film-Installation in der Ausstellung, die Ansätze eines Sozialen Wohnungsbaus des „Servicio de Apoio Ambulatorio Local“ (SAAL) dokumentiert. SAAL wurde kurz nach der Nelkenrevolution 1974 gegründet und sollte die zum Teil Slum-ähnlichen Wohnbedingungen der Bevölkerung verbessern. 25 Prozent lebten damals unter Substandards. Meist waren es Landflüchtige, die von den üblichen Push-Pull-Faktoren, sprich Niedergang der Landwirtschaft und Industrialisierung der Stadt, vom Land in die Städte gelockt werden. Aber es waren auch viele Rückkehrer aus den in die Unabhängigkeit entlassenen Kolonien.

Die Arbeit von SAAL war von Teamarbeit geprägt, von Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen der Bewohner und dem baulichen Kontext, schwankenden politischen Erwartungen, vom Hinterfragen und Erneuern sozialer und kultureller Werte und Sehnsüchte. Im Film sieht man ein Planungsteam ein fröhliches Bürostuhl-Ballett zelebrieren und dann wieder über Zeichentische gebeugt diskutieren. Und Menschen auf den Straßen, jubelnd "Wir kriegen Häuser"-Transparente tragend. Zeugnisse einer enthusiastischen Zeit.

Nach 31 Monaten war Schluss, die Regierung wechselte. Viele beispielhafte Projekte des „Bauens für Viele“ waren noch nicht beendet, immerhin 2250 Häuser. Im Artikel von José António Bandeirinha wird der Bogen zu heute geschlagen: Er benennt die Strategien des Verhandelns, des Einbeziehens, des Eingehens auf eine lokale Identität, dann des Filterns der Planer in Gestaltung und Technik. Er findet sie natürlich wieder bei zeitgenössischen Arbeiten von Alejandro Aravena und anderen, die sich mit dem Wohnen am Existenzminimum beschäftigen. Und er untersucht Sizas Arbeiten, findet in ihnen eine luzide Interpretation der Beteiligung, die er als V- Effekt, als Mittel der Verfremdung im Brechtschen Sinne liest.

Die Übersetzung der Interessen der Bewohner durch den Architekten in Architektur ist kein verwaltender, sondern gestaltender Akt, der Repräsentanz ermöglicht. Das Gleichgewicht der sozialen Prozesse im großen wie kleinen Maßstab ist die Herausforderung, damals wie heute.

Bonjour Tristesse?