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Venice Diaries: Dienstag, 24.8.2010

Schnell los zum Marathon Man Hans Ulrich Obrist. Er ist Kunstliebhaber im wörtlichen, nicht ökonomischen Sinn; Kurator unzähliger Ausstellungen, macht seit Jahren Interview-Marathons. Gespräche im Stundentakt, u.a. auch für die ARCH+ zur Documenta 12, damals mit Rem. Seit diesem Sonntag läuft das Band in Venedig, heute um 9:30 h mit Sejima, der diesjährigen Direktorin der Architekturbiennale Venedig, und Nishizawa, ihrem Partner von Sanaa. Beide lange schon gefeiert, aber angenehm bescheiden im Auftreten.

Die Damen am Arsenale-Eingang machen fragende Gesichter, trödeln in den Raum, telefonieren. Wir werden durchgewunken. Das Interview hat bereits begonnen. Es gibt keine Zuschauer, man versteht kaum ein Wort.

Sejima trägt seidenes Pink, spricht leise, aber mit beredter Gestik. Also spiele ich Charade und erkenne „Essen“, „Reden“, „Umgebung, Landschaft, Park“, „Eingriff“, „Abheben“. Sie könnte über Lausanne sprechen, vielleicht ... Nishizawa in Dunkelblau mit einseitiger Knopfleistenrüsche, parliert souverän auch während Sejimas Rauchpausenabwesenheit.

Ein Zug fährt durch, unwillige Gesichter: Im Nebenraum wird eine Installation getestet. Die Interviewsituation ist absurd, weil es zwar jetzt passiert, aber für später gemacht wird. Und weil über das Bauen geredet wird, während nebenan gebaut wird. Auf dem Video sieht man sprechende Menschen vor elegant ausgeleuchteter Backsteinwand. Kein Staub, keine anderen Personen. Die Produktionsassistenz gähnt, ist aber immer die Erste, die zu den Handwerkern eilt, die ihre Mobilophonmelodie nicht unterdrücken können. Am Boden kauert ein Elektriker und repariert eine Steckdose, eine Stunde lang. Der Toningenieur ist der stärkste, er hält das Mikrofon, 2 Meter lang, die ganze Zeit über ihren Köpfen. Er ist 2 Meter groß.

Über Mies sagen Sanaa: „He is different, he is German, we are Japanese.“

Das Arsenale-Gelände ist beeindruckend. In der Corderie wurden die Seile geflochten. Sieben riesige Raumsegmente, in einer Flucht, 170 Meter lang. Wir verkneifen es uns zu spicken, wie es um den Aufbau steht, es ist verdächtig ruhig. Seit dem 12. Jahrhundert war es hier fast nie ruhig. Bis zu 30.000 Menschen bauten hier in vorindustriellen, aber schon rationalisierten, standardisierten, normierten Arbeitsabläufen Schiffe für Militär und Handel. Die Heizung der Stadt nennt es Wolfgang Scheppe, er wohnt um die Ecke. Im 20. Jahrhundert wurde vieles aus- und umgelagert. Das Militär zog sich auf die Westseite zurück, es ist aber immer noch hochkontrolliertes Gelände. Seit 1999 mit jährlicher Biennale-Ausnahme. Harald Szeemann, die Schlüsselfigur des Kunstkuratierens, Direktor der venezianischen Kunstbiennalen 1999 und 2001, ermöglichte die Ausdehnung des Territoriums vom Nationen-Themen-Park in die Raumflucht der weltweiten diskursiven Vergleichbarkeit.

Auf dem Rückweg zwei Mal in Sackgassen geendet, gestern viermal. Aber ist das Ende eines Fußwegs an einer Wasserstraße wirklich eine Sackgasse, oder nicht doch eine Kreuzung?

Langsam entwickeln wir ein Faible für Cheesie magnets, haben aber die ultimativen Must haves noch nicht entdeckt.

Nachmittags den Stadtrand erkundet, die nordwestliche Waterkant neben den Gleisen. Öffentlicher Park mit erstaunlich wenigen Genießern. Mag an Ferragosto, der italienischen Ferienzeit liegen. Eigentlich ist Ferragosto der 15. August, er gilt als der heißeste Tag Italiens. Kaiser Augustus erließ, dass an diesem Tag auch die Sklaven freihaben. Es ist gleichzeitig Maria Himmelfahrt.

Dann weiter Richtung Wasser und eine Überraschung: Neubauten. Naja, nicht ganz neu, Achtziger Jahre. Könnte von Aldo Rossi sein. Ein Name, der in dem Biennale-Rummel einen wehmütig werden lässt, gehört er doch zu den Architekturgrößen lange bevor diese dann Stararchitekten genannt wurden. Google-Recherche spuckt auf Anhieb nix dazu aus. Viergeschossiges Ensemble um schiefwinkligen Platz. Suburban, paßt strukturell. Schön ist es irgendwie nicht. Eine Ecke weiter ein Haus, das aussieht wie ein 20er-Jahre Bürohaus. Freude, dass es in Vendedig diese Typologie entgegen aller Erwartungen doch gibt. Es wird grade renoviert. Hm, neue Stahlbetonunterzüge im Erdgeschoß, neue Holzbalkendecken in den Geschossen darüber? Da passt was nicht. Ein Mann geht durch das Hoftor, schnell an ihn ran. „Scusi, parla inglese? Tedesco?“ „No.“ Also radebrechen. Es ist ein Neubau, ein Wohnhaus, Eigentumswohnungen. Cool, trotz oder gerade wegen der typologischen Maskerade.

Die Füße tun weh, das Auge will nicht mehr. In die 52 an den Lido. Wasser blaugrün, forsche Wellen, steife lauwarme Brise. Treiben lassen, abschalten.