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Ausstellungsansicht. Foto: Are Carlsen
ARCH+ news

Mission Neighbourhood – (Re)forming Communities

8. Oslo Architecture Triennale 2022, 22.9. bis 30.10.2022
Eine Ausstellungsrezension von Nora Dünser

Die Sache ist weder neu noch sonderlich kompliziert: Der Mensch lebt gerne in einer Umgebung, in der er sich wohlfühlt. Er mag Orte in der Stadt, an denen er ohne Auftrag und Zwang sein kann. Das heißt an konsumfreien, kommunikativen Plätzen in Gegenden mit Verweilpotential. Dass es immer weniger dieser Orte gibt, ist Investor*innen, Bauherr*innen, Stadtplaner*innen und Architekt*innen zu verdanken, denen Profit mehr gilt als das Wohl der Menschen, für die sie bauen. Allerorts entstehen geklonte Wohnburgen, deren sogenannte Qualität sich auf Balkone und Autoabstellplätze beschränkt. Auch die alibimäßig angelegten Wasserspiele in Büro- und Geschäftshausvierteln locken keinen müden Vogel an. Privatisierung führt zu Anonymisierung und Vereinzelung.

Dass das nicht die Zukunft unserer Städte sein kann, führt die diesjährige Ausgabe der Oslo Architecture Triennale mit dem kämpferischen Titel Mission Neighbourhood – (Re)forming Communities in aller Dringlichkeit vor. In der von Christian Pagh kuratierten Hauptschau finden sich mit Fokus auf die Nordischen Länder rund 30 Projekte, die das Mehr zeigen, das unsere Städte erst lebenswert macht: Nachbarschaften. Doch was und wer macht Nachbarschaft aus? Wie kann sie entstehen? Welche Werkzeuge stehen uns zur Verfügung? Wie nutzen wir Straßen sinnvoll? Welche Rolle spielt Natur und wie integrieren wir sie in das städtische Gefüge? Welche politischen Hebel haben wir und welche Instrumente müssen wir erst noch erfinden? Anhand realisierter Bauten, Studien und Forschungsarbeiten werden Wege aufgezeigt, wie ein gemeinsames Miteinander entstehen kann.

Ausstellungsbeitrag „Noisy Neigbourhoods“ von CSAM, lokalen Künstler*innen, Patch Hofweber, der Stadt Malmö und White Arkitekter. Foto: Are Carlsen

Sofielund, Malmö

Die schwedische Kommune Malmö gab 2017 für das vernachlässigte, industriell geprägte, an der Peripherie gelegene „Problemviertel“ Sofielund bei White Arkitekter eine Stadtentwicklungsstudie in Auftrag. Die Studie machte klar, dass der Schutz der ansässigen Unternehmen im Einzelhandel und im Handwerk sowie der lokalen Sportvereine und Kulturinitiativen Priorität genießt. Aus Sorge vor Verdrängung durch neu zuziehende Bevölkerungsschichten, die nicht an die Bedingungen eines Produktionsstandorts gewöhnt sind – und auch aus dem Selbstbewusstsein heraus, das die Gespräche mit White Arkitekter zu Tage förderte –, organisierten sich die Akteur*innen aus dem Kultur- und Industriesektor und formulierten gegenüber der Stadtverwaltung ein Recht auf Lärm. Als Konsequenz rückte die Kommune vom ursprünglichen Revitalisierungsplan, Investitionen für den dringend benötigten Wohnungsbau anzuziehen, ab. Heute ist Sofielund Schwedens erste Kultur- und Industrielärmzone, die als kulturljudzon im Masterplan festgeschrieben ist.

Die Aarhus School of Architecture wurde vom dänischen Büro ADEPT entworfen und liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zum über die Jahre gewachsenen Ort für Kreativschaffende Institute for (X). Foto: Rasmus Hjortshøj

Godsbanen, Aarhus

2021 eröffnete hier die von ADEPT entworfene Aarhus School of Architecture, die bis dahin auf zehn verschiedene Standorte verteilt war. Auf dem Gelände eines ehemaligen Güterbahnhofs gelegen, erhebt sich das viergeschossige, 12.500 Quadratmeter große Gebäude aus Sichtbeton und Glas an zentraler Lage in der dänischen Stadt. Im Erdgeschoss sind Werkstätten, die Bibliothek, Cafeteria und Veranstaltungsräume untergebracht, während die oberen Etagen intimeren Arbeitsräumen vorbehalten sind. Die eindrucksvollen Werkstätten sind es auch, die mit den Aufputzleitungen der Haustechnik als Stilelement den Gesamtcharakter des Baus dominieren. Noch interessanter an dem Gebäude ist sein Umgang mit dem Außenraum. Die unterste Ebene öffnet sich komplett zu seiner Umgebung, ist von außen einsehbar, schwellenlos für Externe zugänglich und lässt die Grenze zwischen Schule und Stadt verschwimmen. Doch die School of Architecture ist erst die eine Hälfte der Geschichte. Schon 2009 begann eine Gruppe von Künstler*innen und Kulturproduzent*innen Godsbanen das Areal über die Jahre in Eigeninitiative in ein Dorf für Kreative zu verwandeln. Sie pachteten die leerstehenden Hallen des Güterbahnhofs, zogen in Frachtcontainer und selbstgebaute Hütten und Häuschen, um dort zu arbeiten. Verbindende Klammer der vielen unterschiedlichen Maker, Kleinunternehmer*innen und Start-ups ist die unabhängige Non-Profit-Organisation Institute for (X). Staatlicher Prestigebau trifft auf gewachsene alternative DIY-Gemeinschaft – und überraschenderweise scheint die unverhoffte Nachbarschaft zu funktionieren. Schon zu einem frühen Zeitpunkt involvierte ADEPT die Bürgerinitiative in den Planungsprozess, aus der der sogenannte Reißverschlussplan hervorging. Zwischen der Aarhus School of Architecture und dem Institute for (X) werden keine sichtbaren Grundstücksgrenzen gezogen, die beiden Einrichtungen gehen nahtlos ineinander über und ergänzen sich. Die Mitglieder des Kreativdorfes nutzen die Werkstätten der Schule und die Studierenden das kulturelle und gastronomische Angebot von Institute for (X). Der alte Spirit von Godsbanen blieb trotz Neubau in der Nachbarschaft erhalten.

Screenshot aus dem in der Triennale präsentierten Film „Threads of Life“ über Mandaworks Vorschlag für New Skerjafjörður
Mandaworks' Vorschlag eines Straßentyps für New Skerjafjördur

Skerjafjörður, Reykjavík

Wo sich heute der Inlandsflughafen der isländischen Hauptstadt befindet, wird längerfristig ein neues Wohnviertel entstehen, das in ökologischen und sozialen Belangen Vorbildfunktion einnehmen will. 2021 wurde das Planungsbüro Mandaworks mit einer Studie betraut, die unter Berücksichtigung des Masterplans Gestaltungsleitlinien für die Straßen und öffentlichen Plätze vorschlagen soll. Dass Straßen in New Skerjafjörður nicht nur Autos dienen, war von Projektanbeginn klar. Den Bedürfnissen von Anwohner*innen, Besucher*innen, Verkehrsteilnehmer*innen, Pflanzen und Tieren auf der begrenzten Fläche gleichermaßen gerecht zu werden, stellte sich als große Herausforderung dar. Anstatt zu versuchen, jeder Straße und jedem Platz dieselben Qualitäten zu geben, teilte Mandaworks die Programmierung auf. Es gibt Straßen, die eher den Charakter von aneinandergereihten Plätzen besitzen, die die gegenüberliegenden Häuser und ihre Bewohner*innen verbinden. Ein anderer Straßenraum ist eher als Korridor für Pflanzen und Tiere angelegt und dient zugleich der Versickerung von Regenwasser, während an anderer Stelle Sport- und Freizeitaktivitäten vorgesehen sind. Neben der Hauptverkehrsachse verläuft wiederum ein Fußgängerboulevard, der ein Maximum an Sonnenlicht abbekommt. Jede Straße hat hier seinen eigenen Charakter, doch alle eint, dass Straße hier als sozialer Raum begriffen wird.

Screenshot aus dem für die Triennale von Gamma Film produzierten Video „Parklife“ (2022) über den Gellerup Park von SLA und EFFEKT
Screenshots aus dem für die Triennale von Gamma Film produzierten Video „Parklife“ (2022) über den Gellerup Park von SLA und EFFEKT

Gellerup, Aarhus

Die Trabantenstadt aus den späten 1960er-Jahren ist Dänemarks größte soziale Wohnbausiedlung und wartet neben gigantischen Plattenbauten mit einer äußerst hohen Zuwanderer-, Arbeitslosen- und Kriminalitätsrate auf. 2019 wurde die Aarhuser Wohnmaschine um einen 130.000 Quadratmeter großen Landschaftspark ergänzt, der die bis dahin monotonen, unattraktiven Zwischenräume mit Leben füllt. Dem Entwurf der Büros SLA und EFFEKT ging ein Bürgerbeteiligungsprozess voran, mit dem die Programmierung der Anlage festgelegt wurde. Entstanden ist eine enorm artenreiche, fast wilde Stadtnatur mit einem abwechslungsreichen Wege- und Pfadsystem, Sport- und Spielplätzen, Pavillons, Sitzgelegenheiten, Urban Gardening und einem See, der das Regenwasser des gesamten Geländes speichert. Nachbarschaft wird hier als ein Miteinander aller Organismen verstanden, ein Ansatz, der gleichzeitig die Erhöhung der menschlichen Lebensqualität garantiert.

Die vier genannten Beispiele sind mögliche Antworten auf eine Armada an Fragen, die Christian Pagh in der Ausstellung formuliert. Konkrete Projekte aus Norwegen sucht man hier jedoch vergebens – diese beschränken sich auf eine mit dem öffentlichen Entwickler Hav Eiendom AS organisierte Präsentation von Wettbewerbsbeiträgen für das neu zu entwickelnde Hafenviertel Grønlikaia, Oslo in the Making. Norwegen ist eine der reichsten Nationen der Welt, deren Bevölkerung zu rund 80 Prozent in selbstgenutztem Wohneigentum leben. Vor diesem Hintergrund treibt dem Kurator die Frage um, wie Nachbarschaft als eine für alle offene und sichere Umgebung, mit sozialer Infrastruktur und einem Angebot zur Ausübung diverser Aktivitäten denken lässt. Nachbarschaft als ein Ort, mit dem seine Nutzer*innen eine Beziehung aufbauen, mit dem sie sich als eine Art Miteigentümer*in identifizieren und als solche angesprochen fühlen, sich zu engagieren. Ein Ort, an dem geteilt und interagiert wird, und an dem Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung zur Normalität gehört. In der Ausstellung hält Pagh auch für den größten Nachbarschaftsanfänger einen Lösungsansatz parat. Bleibt nur zu hoffen, dass sich auch der ein oder andere Entscheidungsträger in die Triennale verirrt.

Wie ein Prolog ist der Schau eine Ausstellung in der Ausstellung vorgeschaltet: eine Auswahl der an Ideenreichtum und Verve schwer zu übertreffenden Handzeichnungen von Archigram-Mitbegründer Peter Cook. Ideas for Cities sind fantastische Spinnereien existierender und erfundener Städte, Landschaften und Gebäude – in gewisser Weise Lockerungsübungen für zu sehr in starren Mustern denkende Planer*innen.

Peter Cook: Veg Village, 1996 & 2001. Foto: Nora Dünser
Peter Cook: Towers-Serie, 1968–2006. Foto: Nora Dünser

Die Triennale Mission Neighbourhood – (Re)forming Communities teilt sich in drei Standorte auf: Die von Christian Pagh kuratierte Hauptausstellung befindet sich im Alten Munch Museum, wo sich durch die Ausstellungen Peter Cook: Ideas for Cities und Oslo in the Making ergänzt wird. Das National Museum – Architecture zeigt Coming into Community, eine kompakte Schau historischer Fallbeispiele queerer Nachbarschaft, und eine Installation des schwedischen Kollektivs MYCKET, das ARCH+ in einer der jüngsten Ausgaben zum Thema „Zeitgenössische feministische Raumpraxis“ vorgestellt hat. Im Projektraum ROM sind mit Betraktninger = Observations, Dialogues and Actions künstlerische Positionen zum Thema zu sehen.

www.oslotriennale.no

Disclaimer: Die Norwegische Botschaft hat der Autorin den Besuch der Triennale ermöglicht.

 
 
Ausstellungsansicht der Fotoserie „The Remain of Eden“ von Helge Garke. Foto: Are Carlsen
Ausstellungsansicht „Open Neighbourhood“ von ADEPT und der Aarhus School of Architecture, Studio 1D
Ausstellungsbeitrag People's Palace von Atelier for Byers Rum, AVPD, DSA ARK STUDIO und Olivia Toftum. Foto: Are Carlsen
 
Ausstellungsbeitrag "Garden of Ideas" von Einar Sneve Martinussen und Joakim Formo von der Oslo School of Architecture and Design, und Dan Hill von der Melbourne School of Design, und Studierenden. Foto: Are Carlsen
Ausstellungsansicht „Copenhagen Car Free(dom)“ von JAJA Architects in Zusammenarbeit mit Aalborg University, Institute of Planning, und der Royal Danish Academy. Foto: Are Carlsen
 
 
Ausstellungsansicht „Gellerup: Mission Neighbourhood Plants“ von SLA
Ausstellungsansicht Croydon Urban Room. Foto: Are Carlsen
 
Ausstellungsansicht „The Living Streets“ von Jenny Grettve und Meggan Collins (Dark Matter Labs). Foto: Are Carlsen