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Celebrating Public Architecture – Buildings from the Open Call in Flanders 2000–21

Eine Rezension von Christine Rüb

Im August 2015 veröffentlichte ARCH+ die Ausgabe 220 Normcore. Hinter diesem kryptischen Kofferwort verbirgt sich Die Radikalität des Normalen in Flandern, wie der Untertitel verrät. Die Entscheidung für die darin publizierten Projekte diskutierten wir entlang der folgenden im Editorial umrissenen These: „Indem sie sich mit dem Alltäglichen auseinandersetzen, verwandeln die hier vorgestellten flämischen Architekten die Normalität der belgischen Lebenswelt in eine architektonische Strategie. Bei dieser erfinderischen Übersetzung des Alltäglichen in Architektur wird das Normale als Statement, ja als Haltung radikalisiert und produktiv gewendet.“

Wesentlich für diese schöpferische Auseinandersetzung mit der komplexen Unbestimmtheit oder gar Hässlichkeit der vorhandenen Umwelt in Flandern ist auch die Einrichtung des Vlaams Bouwmeester. Die Hauptaufgabe dieser Institution – mit dessen Interimsleiter Stefan Devoldere wir damals ein ausführliches Interview führten – besteht darin, die Qualität der gebauten Umwelt zu überwachen, zu stimulieren und zu steigern. Dies praktiziert sie als aktive Schnittstelle zwischen der Beratung öffentlicher Bauherren vorab bei der Formulierung ihrer Bauvorhaben und der anschließenden Durchführung von Wettbewerben unter gezielter Beteiligung von jungen und kleinen Büros.

 

Komplexes kooperatives Verfahren, heterogene Ergebnisse

Florian Heilmeyers Buch Celebrating Public Architecture – Buildings from the Open Call in Flanders 2000–21 nimmt nun unseren Staffelstab auf und vollführt einen Marathonlauf durch das belgische Bundesland: Anhand von 70 mannigfaltigen Projekten werden die einmaligen Qualitäten der Einbindung des Bouwmeester bei der Konzeption und Vergabe von öffentlichen Bauten enzyklopädisch ausgebreitet.

Die Sichtbarkeit und öffentliche Zugänglichkeit – die Menschen sollen die Bauten erleben und erfassen können – sind wesentliche Faktoren der Förderung von Akzeptanz, Verständnis und Begeisterung für qualitätsvolle Architektur. Daher wurden die auf je einer Doppelseite prägnant präsentierten Projekte auch nicht anhand etwaiger spektakulärer architektonischer Alleinstellungsmerkmale, sondern anhand der Vielfalt der Nutzungen ausgewählt: Kindergärten, Schulen, Büro-, Universitäts- und Sportgebäude, Polizeistationen, Pflegeheime und Krematorien, Museen, Kulturzentren, Bibliotheken, Rat- und Wohnhäuser, Brücken, städtische Masterpläne und öffentliche Grünräume.

 

Gute Architektur ist ein öffentliches Gut

Gegliedert wird dieses auch als Reiseführer nutzbare Handbuch von drei Essays. Heilmeyer erläutert in seinem Leitartikel nicht nur die Geschichte, Funktion und Werkzeuge des Bouwmeester, sondern diskutiert neben ausgewählten Ergebnissen auch eine unerwartete strukturelle Qualität: das Scheitern von Projekten, bei denen sich kein Konsens zwischen Auftraggeber und Büro herstellen ließ. In den letzten 20 Jahren wurden bisher 331 Ergebnisse aus den Open Calls in Flandern realisiert. Insgesamt wurden für 333 Auftraggebern 699 Wettwerbe durchgeführt, 209 jedoch an unterschiedlichen Arbeitsständen zurückgestellt, neu ausgeschrieben oder ganz verworfen. Denn eine Garantie für die Umsetzung gibt es nicht: Das Scheitern von Vergaben ist Teil des Prozesses, da der Bouwmeester eben nicht als großer Bestimmer, sondern als Moderator handelt. Die Aufarbeitung der abgesagten Projekte könnte – so verriet der Autor – das kontinuierliche Lernen auf allen Seiten noch vertiefen.

Wesentlich an der Funktion des Bouwmeester und deren Umsetzung in den Open Calls ist ein Ablauf, bei dem mit sehr vielen Beteiligten anhand objektiver Argumente über die Qualität von Architektur diskutiert wird. Es geht dabei zum größten Teil um Abläufe, Organisation und Funktionalität und nur am Rand um formale Aspekte oder individuellen Geschmack.

Anne Malliet ist seit 2001 Mitglied des Bouwmeester und eine der Betreuer*innen der Open Calls. Sie berichtet in ihrem Beitrag über den Prozess der Ausschreibungen in all seinen Besonderheiten. Der Bouwmeester ist zuerst ein Sparring-Partner für die öffentlichen Auftraggeber, mit dem sie lernen, ihre Bedarfe überzeugend sinnstiftend und nicht nur numerisch zu ermitteln und zu erläutern. Denn Grundlage für eine gute Auslobung ist die Phase 0: Wer die falsche Frage stellt, erhält keine brauchbare Antwort. Die alle sechs Monate veröffentlichten Aufrufe, mit denen das Beteiligungsinteresse der Architekt*innen abgefragt wird, fußen zentral auf der Erläuterung des sozialen Auftrags der Projekte und deren baukulturellem Mehrwert, marginal auf Quadratmetern und Budgets. Aus den Bewerbungen trifft die Arbeitsgruppe des Bouwmeester eine dezidierte Auswahl von 10 Einreichungen, aus denen sich die Gemeinde für 5 entscheidet, mit denen ein vorbildliches Ergebnis zu erreichen sein könnte. Nun erst findet die honorierte Beauftragung zur Erstellung eines Vorschlages durch die Entwurfsteams statt. Dies wird mit gemeinsamen Ortsbegehungen und Rückfragerunden durchgeführt.

Die Ergebnisse der Teams werden anschließend nicht anonym besprochen, vielmehr präsentieren die geladenen Planungsbüros ihre Beiträge vor den anderen Beauftragten und der Jury, die aus dem Bouwmeester, eine*r externen Expert*in und drei Vertreter*innen des Bauherren besteht. Es entsteht eine produktive Kultur des Austausches, bei der alle voneinander lernen können. Nicht zuletzt lernen sich die Beteiligten so schon im Vorfeld der Entscheidung kennen und können die Qualitäten der Verständigung ausloten, die eine partnerschaftliche Umsetzung gewährleisten. Dieses Vorgehen ist bewusst konform mit den europäischen Ausschreiberegularien gewählt, das sogenannte Verhandlungsverfahren setzt den Rahmen dafür.

 

Die Zukunft liegt in der Partizipation

Erik Wieërs hat den Posten des Bouwmeester im Sommer 2020 übernommen, er ist Mitgründer des Antwerpener Büros Collectief Noord architecten. Sein Artikel bildet den Abschluss des Buches, und er fokussiert nochmals grundlegend: Der Name ist Programm, der Open Call ist eine Einladung zur Teilnahme und Auseinandersetzung, es ist keine Competition, die beim Wettbewerb gegeneinander eher formale Wiedererkennbarkeit statt individueller Lösungen provoziert. Die Maßgabe nach Vielfalt der zu empfehlenden Büros – von etabliert und groß über regional und international zu jung und klein – stimuliert zudem mehr experimentelle und innovative Vorschläge und weniger die Wiederholung von etablierten Antworten auf eine Bauaufgabe. Da alle Verfahrensschritte ausführlich begleitet werden, steigt die Kompetenz bei allen: beim Team des Bouwmeester, bei den Gemeindeverwaltungen und bei den Büros.

Wieërs blickt mit offenen Augen in die Zukunft: Das Interesse und die Kritikfähigkeit der Bevölkerung wurde durch die Ergebnisse der letzten 20 Jahre gesteigert, und auch deren Wunsch und Forderung nach Beteiligung bei den Prozessen. Diese Partizipation von allen muss durch noch bessere Kommunikation während der Abläufe ermöglicht werden. Das wird den Akteur*innen nicht großartig schwerfallen, denn es entspricht dem Grundgeist der Open Calls, der sich nicht durch Geschmack und Stil sondern durch Prozesse und Handlungsweisen definiert.

 

Learning from Flanders

Wir lesen all dies und reiben uns verwundert die Augen: Weshalb haben wir solch ein demokratisches Instrument nicht auch in Deutschland an der Hand? Schon immer leiden alle jungen Büros hierzulande unter den Referenzkriterien bei Vergaben, wenn keine offene Wettbewerbe durchgeführt werden. Doch Berlin könnte mit gutem Beispiel vorangehen, denn die Stelle der Leitung der Senatsbaudirektion wird bald ausgeschrieben und könnte mit diesen Instrumenten vortrefflich ausgestattet werden. So würde der Weg zu einer guten Architektur, zum Wohle und mit der Beteiligung aller, als öffentliches Gut sinnvoll beschritten.

Wir danken dem Jovis Verlag, der uns 2 Exemplare des Buches im Wert von 36 Euro zur Verlosung unter allen Neuabonnements gestiftet hat, die bis zum 31.12.2021 abgeschlossen werden. Diese Publikation sei darüber hinaus nicht nur allen neugierigen Planner*innen ausdrücklich empfohlen, sie sei insbesondere auch allen Landesregierungen, Gemeinde- und Verwaltungsvertreter*innen wärmstens ans Herz gelegt!

 
 

Florian Heilmeyer (Hg.): Celebrating Public Architecture – Buildings from the Open Call in Flanders 2000–21

Jovis Verlag, Berlin 2021

256 Seiten, 36 Euro