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Trüby liest

Trüby liest: fünf Bücher zum Thema Rechte Räume

Rechte Räume allerorten: Neben der ARCH+ 235: „Rechte Räume – Bericht einer Europareise (Mai 2019)1 wurde das Thema in den letzten Jahren in einigen mitunter bemerkenswerten Veröffentlichungen behandelt, auf die im Folgenden eingegangen wird. Bemerkenswert sind diese Publikationen deshalb, weil in ihnen in verschiedener Intensität die Dimensionen rechter Raumnahme im Kontext einer Stadt-versus-Land-Opposition sowie in den diskursiven Räumen sozialer Medien deutlich werden. Aber auch die in manchen dieser Publikationen getätigten Aussagen zum Verhältnis von Ideologie und Materialität verdienen bei einem Thema, das dazu neigt, entweder beides völlig zu trennen oder kurzschlüssige Verbindungen zwischen beidem zu etablieren, genauere Beachtung.

Andrea Röpke, Andreas Speit: Völkische Landnahme – Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos (2019)

Andrea Röpke und Andreas Speit gehören zu den anerkanntesten Journalist*innen, die in Deutschland das Thema „Rechtsextremismus“ beackern. In Völkische Landnahme legen Röpke und Speit rechte Strategien der Gegenwart dar, „durch Landnahme im vorpolitischen Raum eine kulturelle Hegemonie zu gewinnen“.2 Die Vorgeschichte dieser Entwicklung beginnt für sie im 19. Jahrhundert: mit Ernst Moritz Arndt (1769–1860), dem nationalistischen Schriftsteller, Historiker und Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung; mit Theodor Körner (1791–1813), dem patriotischen deutschen Schriftsteller; mit Paul Förster (1944–1925),3 dem antisemitischen Publizisten und Politiker im Deutschen Kaiserreich; oder mit Willibald Hentschel (1858–1947),4 dem deutschen Naturwissenschaftler, Schriftsteller im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Die mit diesen (und einigen anderen) Namen verknüpfte Entstehung der völkischen Bewegung findet ihr Schlüsseldatum, so Röpke und Speit, in der Reichsgründung 1871. Der neue Machtstaat, argumentieren sie unter Rückgriff auf Jürgen Habermas, erschien „den alten Eliten und der neuen Bourgoisie“5 kaum als Kulturnation, und viele von ihnen verfielen daher in eine Art gesellschaftspolitische Schockstarre.6 Die Folge waren antimoderne, nationalistische Ressentiments, bei deren Verbreitung auch Konzepte gebauter Umwelt eine zentrale Rolle spielten. So geht auf Hentschel die im Jahre 1926 in München erfolgte Gründung des Bundes Artam e. V. zurück, mit dem das in so genannten „Artamanensiedlungen“ lebende Artamanentum – einer „ritterlichen deutschen Kampfgemeinschaft auf deutscher Erde“ (Hentschel) – propagiert werden sollte. Viele spätere Nationalsozialisten wie der „Reichsbauernführer“ Richard Walther Darré, der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höß und der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler waren Artamanen.

Seit den 1990er-Jahren, so machen Röpke und Speit deutlich, gibt es in Deutschland wieder Siedler*innen, die sich als „Neo-Artmanen“ verstehen – vor allem in Mecklenburg, der „Modellregion neonazistischer Siedlungsstrategien“.7 Mit beeindruckender Detailkenntnis verwandtschaftlicher und freundschaftlicher Verbindungen legen die Autor*innen dar, wie Rechte „Schützenhilfe beim Aufbau von Hofgemeinschaften von erfahrenen Verwandten und Bekannten aus Dörfern in der Lüneburger Heide“ erhielten.8 Auch theoretische Schriften zur Siedlungskonzepten werden thematisiert, so etwa die erstmals 2012 erschienene Broschüre Neue Wege – Ideen zu einem anderen Kampf: Unabhängige Wehrdörfer als Selbstbehauptung und Kampfform, die vom Neonazi und Kameradschaftsaktivisten Steffen Hupka aus Hohenthurm im Saalekreis verfasst wurde.9 „Die Einheit einer nationalen Wehr- und Siedlungsgemeinschaft“, so wird Hupka von Röpke und Speit zitiert, „muss sich in folgenden Bereichen zeigen: in einer unerschütterlichen nationalsozialistischen Weltanschauung. Zweitens unbedingte Opferbereitschaft bis in den Tod. Und drittens rassische Zugehörigkeit zu den germanischen Völkern und genetische Gesundheit.“10 Die in manchen liberalen und konservativen Leitmedien mit teils absurdem Argumentationsaufwand betriebene Differenzierung zwischen hartem Neonazismus und „neurechtem“ AfD-Nationalismus gehen spätestens nach der Lektüre von Röpkes und Speits Buch gleitend ineinander über. So verweisen die Autor*innen auf Götz Kubitscheks Aufsatz „Leere Räume – Junge Männer“11 (2007), in dem der Björn-Höcke-nahe Schnellrodaer Publizist die Vision entfaltet, verfallene ostdeutsche Dörfer von herumvagabundierenden Neonazi-„Kameradschaften“ aufmöbeln zu lassen, um ihnen das Schicksal von „Perspektivlosigkeitsreportagen“12 zu ersparen. Es gibt sicherlich Habitus-Unterschiede zwischen den „Kameradschaften“ und den Kubitscheks, aber ideologisch gesehen passt zwischen beiden kein Blatt Papier. Alle streben mit ihren Landraum-Projekten an, extrem rechte „Lebensräume jenseits großstädtischer ‚Multikulti-Realität‘ zu schaffen, sodass man dort ‚unter Gleichen‘ leben könne“,13 und nur in der Gewaltbereitschaft gehen die einen den direkten, die anderen einen indirekten Weg. Die Brauntöne können also – auch das implizieren Röpke und Speit – keineswegs trennscharf sortiert werden.

Als besonders verstörend entpuppt sich Röpkes und Speits Kapitel „Von der Wiege bis zur Bahre. Völkische Lebenswelten“, das sich streckenweise wie ein Aufmarsch von Familienaufstellungen in Hakenkreuzform liest. So wird die „Sippe Berg“ vorgestellt,14 ebenso die „Sippe Börm“,15 und von der „Familie Schröppe“ ist zu vermeldeen: „Es gab Fahnenappelle und Feiern zum Geburtstag des Führers.“16 Röpke und Speit entfalten diverse Biografien in geschlossenen, extrem rechten ideologischen Systemen, die manchmal über Generationen aufrechterhalten werden. Da wird von heidnischen Neonazis berichtet, die die Geburtsanzeige ihres Sohnes mit dem Datum „14. 10. 3799 n. St.“ versehen: „Die Abkürzung ‚n. St.‘ steht für ‚nach Stonehenge‘ und verdeutlicht die Ablehnung der üblichen christlichen Zeitrechnung. Stonehenge, der berühmte Steinkreis in Großbritannien, soll etwa 1800 vor Christi errichtet worden sein, er gilt als besondere Leistung der heidnischen Vorfahren“17; oder es wird das familiäre 1.000-Teile-Puzzlespiel Deutschland in den Grenzen von 1937 erwähnt,18 ebenso das Grausamkeitstraining, das in manchen dieser Familien stattfindet, wenn die Kinder beim Schlachten von Vieh auf dem Hof zuschauen müssen.19 Auch wird auf die Rolle der Sprache in vielen dieser Familien eingegangen: „So heißt es ‚Weltnetz‘ statt Internet, ‚Heimatseite‘ statt Homepage. ‚T-Hemd‘ statt T-Shirt. Fernseher oder Computer werden oftmals gar als ‚Elektrojuden‘ bezeichnet. Ehemalige Szenemitglieder berichten von zehn Kniebeugen und zehn Liegestützen als Strafe für die Benutzung eines ‚Fremdwortes‘ auf Fahrten oder im Jugendlager.“20 Mit Bezug auf eine Studie des Historikers Davide Cantoni von der Ludwig-Maximilians-Universität München schreiben Röpke und Speit: „Dort, wo die NSDAP vor 80 Jahren erfolgreich war, ist es heute die AfD.“21 Denn seit Jahren sei wissenschaftlich dargelegt, so referieren die Autor*innen Cantoni, „dass eine Beziehung zwischen den Einstellungen von Eltern und Kindern besteht. Ein Bruch wäre eher untypisch. Der 68er-Konflikt zwischen Eltern und Kindern war eine Ausnahme einer Nachkriegsgesellschaft, die verdrängte.“22 Das Buch schildert den Horror patriarchal übercodierter Familien in deutscher ländlicher Einsamkeit, die nur in einem Binärsystem zwischen totaler Kopiergenauigkeit oder erbarmungsloser Verstoßung agieren können. Das könnte als Familialismus kritisiert werden, zumal die Autor*innen keine Exitstrategien aus der Sippenhölle ausschildern, schon gar nicht einen sozialtherapeutischen Maßnahmenkatalog. Völkische Landnahme ist eine wüste, Happy-End-lose, aber immens wichtige Status-quo-Beschreibung zur allgemeinen Beunruhigung.

Lynn Berg, Jan Üblacker (Hg.): Rechtes Denken, rechte Räume? – Demokratiefeindliche Entwicklungen und ihre räumlichen Kontexte (2020)

Die transgenerationale Persistenz von rechten Einstellungen in bestimmten Gegenden ist auch Thema des von Lynn Berg und Jan Üblacker herausgegeben Bandes Rechtes Denken, rechte Räume?. Die Publikation geht auf einen gleichnamigen Workshop zurück, der im Oktober 2018 ca. 40 Teilnehmende aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft bei dem vom Forschungsinstitut für gesellschaftliche Weiterentwicklung ausgerichteten NRW-Dialogforum in Düsseldorf zusammenbrachte.23 Die Herausgeber*innen wollen mit ihrem Buch insbesondere auf zwei Fragen fokussieren: „Wie bedingen räumliche Kontexte rechte Orientierungen und Wahlentscheidungen? Wie entstehen aus individuellen und kollektiven Einstellungen und Handlungen rechte und / oder demokratieferne Räume?“24 Es geht also um Wirkungszusammenhänge von Umgebungen auf Handlungen einerseits und von Handlungen auf Umgebungen andererseits. Dass rechte Hochburgen oftmals rechte Hochburgen bleiben – die Forschung spricht vom „Legacy-Effekt“25 – erklären sich Berg und Üblacker mit lokalen sozialen Netzwerken, die „zu einer Verfestigung des politischen Klimas beitragen“,26 und die beispielsweise dazu führten, dass die Zustimmung zur AfD in jenen Bezirken besonders hoch ist, in denen bereits die Republikaner bei der Bundestagswahl 1994 hohe Zustimmungswerte erzielten. Vor allem vier Mechanismen, so die Autor*innen, sorgen für rechte Orts-Persistenzen: „Erstens scheinen die Parteien ihre Mitglieder eher aus strukturell benachteiligten Gebieten zu gewinnen. Zweitens erhöhen die räumliche Nähe zu ‚rechten Hochburgen‘ und historisch gewachsenen lokalen Netzwerken die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Etablierung von Parteistrukturen in benachbarten Gebieten. Drittens kann die lokale Parteibindung durch eine Ideologie, die auf die dortigen Traditionen zurückgreift, gestärkt werden. Viertens hat sich herausgestellt, dass in Abhängigkeit der Funktionsweise des Wahlsystems ein raumsensibles Wahlkampfmanagement und gezielt initiierter innerparteilicher Wettkampf um Mandate erheblich zum Wahlerfolg beitragen kann.“27

Wenngleich der Band mit bisweilen eher banalen Beiträgen aufwartet, in denen die AfD-Zustimmung in bestimmten Städten wie Leipzig zirkelschlüssig mit dem „höhere[n] AfD-Wähleranteil in ostdeutschen Städten“28  begründet wird, so verdienen insbesondere drei Texte größere Aufmerksamkeit. Erstens Anna Beckers, Franziska Schreibers und Hannah Göpperts Beitrag „Zwischen Netz und Nachbarschaft – Die sozialräumliche Wirkung digitaler Medien im Kontext antipluralistischer Haltungen und politischer Polarisierung“. Darin untersuchen die Autor*innen die sozialräumliche Wirkung von sozialen Medien wie Nachbarschaftsplattformen, Tauschbörsen, Facebook-Gruppen oder Stadtteilblogs auf den real existierenden Stadt- bzw. Quartiersraum. Sie fragen: „Tragen soziale Medien auch im lokalen Kontext zu einer weiteren Polarisierung der Gesellschaft bei oder bieten sie Potenziale, politische und soziale Barrieren zu überwinden? Stärken sie integratives Engagement oder profitieren demokratie- und pluralitätsfeindliche Bewegungen?“29 Zur Beantwortung dieser Fragen führen die Autor*innen das „Konzept der ‚hybriden Räume‘“ ein, mit dem sie die wechselseitigen Durchdringungen von digitalen und analogen Sphären an den Beispielen von Meißen (Sachsen) und München-Neuperlach zu greifen versuchen.30 Die Studie kommt zu dem Schluss, dass der Aufbau von milieuübergreifenden Kontakten vor allem „über das Ausblenden politischer Einstellungen funktioniert“31 und soziale Medien politische Differenzen eher verstärken als überwinden. Besonders plastisch wird dies in Meißen, wo eine Interviewpartnerin den Beginn dieser Entwicklung vor allem mit der rechtspopulistischen Instrumentalisierung der Geflüchtetensolidarität im Jahr 2015 in Verbindung bringt; Zitat: „Diese kleinen Hinterhofveranstaltungen, wo jeder was mitgebracht hat. [...] Das ist völlig weg. Das gibt es nicht mehr. Da haben alle Nachbarn teilgenommen. Aber heute... [...] Das ist einfach nicht mehr möglich. Und ich glaube, dass es diese Internetsache ist. Irgendwo im Sommer 2015 ist der Schnittpunkt, wo das dann nicht mehr stattgefunden hat.“32

Wenngleich in Rechtes Denken, rechte Räume? auch der eine oder andere Landstrich zur Sprache kommt, wird doch ein starker Akzent auf Städte und Stadtteile gesetzt. Insbesondere auf Dortmund-Dorstfeld. Das liegt daran, dass sich dort im Laufe der 2000er-Jahre autonome Strukturen der extremen Rechten wie der sogenannte „Nationale Widerstand Dortmund“ (NWDO) etablieren konnten, deren Personal auch nach dem Verbot dieser Gruppierung im Jahre 2012 vor Ort locker weiter agitieren konnte. In ihrem Beitrag „Rechtsextremistische lokale Raumaneignung im Spiegel des Diskurses – das Beispiel Dortmund-Dorstfeld“ – dem zweiten besonders lesenswerten Text des Bandes – versteht es Susanne Kubiaks minutiös darzulegen, wie in diesem Stadtteil das erstmalig 1991 formulierte Konzept der „National befreiten Zonen“33 nach und nach durchgesetzt werden konnte, und zwar mithilfe von vier raumwirksamen Handlungsmustern: erstens der „Konzentration innerhalb des Raumes“, zweitens dem „Zeigen hoher Präsenz“, drittens dem „Schaffen von Akzeptanz“ sowie viertens dem „Herausdrängen von ‚Feind*innen‘“.34 Kubiak zeigt die enge räumliche Verflechtung dieser Handlungsmuster, warnt aber gleichzeitig davor, räumliche Zuschreibung wie „Nazi-Kiez“ zu verwenden, die Zuschreibungen „iterativ immer weiter [...] stärken und somit auch [...] essentialisieren [...], sie [...] homogenisieren und den Stadtteil als solchen [...]  stigmatisieren“.35 Dies ist ein Einwand, der bei der „Rechte Räume“-Forschung sicherlich insgesamt zu bedenken ist. Umso wichtiger sind Gegenkonzepte zu „rechten Räumen“, die auch sprachlich verfangen. Ob dies die „deliberativen Räume“, also die Räume der Abwägung sind, wie Kevin Brandt, Milena Durczak, Gerrit Tiefenthal, Tatiana Zimenkova in ihrem Beitrag „Deliberative Räume als Gegenentwurf zu rechten Räumen – das Projekt ZuNaMi“ vorschlagen? Den Autor*innen ist natürlich zuzustimmen, wenn sie für die Schaffung inklusiver Räume plädieren, „in denen Begegnungen und Aushandlungsprozesse stattfinden“,36 die Vergesellschaftungen jenseits von Hypertrophien ethnischer Homogenität produzieren. Damit beziehen sie sich auf die zentrale, seit den Anfängen der Stadtsoziologie verhandelte Eigenart des Urbanen, nämlich die Begegnung mit dem und den Fremden zu ermöglichen. Doch ob Neonazis derlei Gesprächsangebote jemals angenommen haben und sich nach fruchtbaren Diskussionen reumütig in die Geflüchtetenarbeit engagiert haben, geht aus dem Text nicht hervor.37 Resümierend muss konstatiert werden, dass in Rechtes Denken, rechte Räume? die komplexen Wirkungszusammenhänge von Umgebungen auf Handlungen einerseits und von Handlungen auf Umgebungen andererseits keineswegs in angemessener Komplexität dargestellt sind. Viele Diskursebenen – insbesondere die historischen und symbolischen Dimensionen von Raum-Politik-Bezügen – werden nicht einmal angedeutet. Doch die Beiträge, die das mitunter toxische Verhältnis von Nachbarschaft und Netzwelt beleuchten oder extrem rechte Raumaneignungen in einer Großstadt wie Dortmund minutiös darlegen, warten mit überraschenden und lesenswerten Erkenntnissen auf.

Peter Bescherer, Anne Burkhardt, Robert Feustel, Gisela Mackenroth und Luzia Sievi (Hg.): Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie. Stadtentwicklung, Rechtsruck und Soziale Bewegungen (2021)

Rechte Vorstöße in deutschen Städten werden auch in einem weiteren kürzlich erschienenen Buch thematisiert, und zwar in dem von Peter Bescherer, Anne Burkhardt, Robert Feustel, Gisela Mackenroth und Luzia Sievi herausgegebenen Sammelband Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie – Stadtentwicklung, Rechtsruck und Soziale Bewegungen (2021). Die Publikation, mit der die Ergebnisse des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierten und zwischen 2017–2020 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und an der Universität Tübingen durchgeführten Forschungsprojektes PODESTA (Populismus und Demokratie in der Stadt) vorgelegt werden, folgt der zentralen Fragestellung, ob es einen „möglichen Zusammenhang zwischen rechten Denk- und Handlungsformen (konkretisiert in den migrationsbezogenen Ängsten) und städtischen Problemen (konkretisiert in der Angst vor steigenden Wohnkosten)“ gibt.38 Oder anders formuliert: „Wie werden die Verdrängung von Mieter*innen, die Veränderungen im öffentlichen Raum, die Umsetzung der Mobilitäts- und Energiewende, die Durchführung städtebaulicher Projekte und andere städtische Entwicklungen von denen, die sie betreffen, wahrgenommen und wie sind diese Wahrnehmungen gegebenenfalls mit rechten Ressentiments und rassistischen Stereotypen verknüpft?“39 Methodisch ging PODESTA vor allem mittels dichter Beschreibungen von Konfliktsituationen in Leipzig und Stuttgart vor: „Die Ursachen rechter Dynamiken lassen sich gerade in kleinräumigen (Konflikt-)Situationen als Teil sozialer Praxis beobachten.“40

Sowohl in Leipzig als auch in Stuttgart machen die Forscher*innen als Einfallstor für innerstädtischen Rechtspopulismus vor allem Autothemen aus. Während das Leipziger Fallbeispiel, bei dem es um die DDR-typischen, von Bauprojekten bedrohten „Garagenhöfe“ als Anerkennungsterrain für Trabi- und Wartburg-Bastler*innen geht, nicht so recht zünden will, entfaltet das Stuttgarter Beispiel – nämlich die Dieselproteste – eine starke diskursive Sogwirkung. Zur kurzen Rekapitulation: Nach Beschluss der baden-württembergischen Landesregierung dürfen seit Januar 2019 keine Autos, die nicht mindestens die Euro-5-Norm erfüllen, nach Stuttgart einfahren. Die Folge waren noch im selben Jahr heftige „Dieselproteste“, die vor Ort von der AfD und auch der extrem rechten Betriebsratsliste Zentrum Automobil unterstützt wurden. Entgegen einer allzu simplifizierenden Einordnung rechter Stadtpolitik in Richtung einer „Rückkehr zur Vergangenheit“41 in Form von Rekonstruktionsprojekten machen etwa Anne Burckhardt und Robert Feustel in ihrem wichtigen Beitrag „Die Stadt als Projektionsfläche – Antiurbane Narrative von rechts“ deutlich, dass im rechten Stadtdiskurs Antimoderne und Festhalten an der Moderne zusammenfallen: „Während der Diskurs um Architektur und Städtebau ein stark vergangenheitsorientiertes Moment aufweist und Sehnsucht nach einer guten alten Zeit evozieren will, für deren Wiederherstellung sich die Rechten einsetzen, werden im Diskurs um städtische Mobilität gezielt zukunftsorientierte Untergangs- und Bedrohungsszenarien entfaltet, um die aktuelle Stadtpolitik als unfähig (und die Diesel-Fahrverbote als Fehler) zu entlarven.“42 Burckhardt und Feustel benennen also bemerkenswerte Widersprüche: „Einerseits wird das herkömmliche Auto idealisiert, was unweigerlich mit fordistischer Stadtplanung und raumgreifendem Straßenbau zusammenhängt; an anderer Stelle treten die Rechten für zukunftsorientierte Technologien in der Feinstaub- und Kriminalitätsbekämpfung ein. Andererseits verweisen einige städtebauliche Debatten von rechts darauf, dass alt gut ist, je älter desto besser.“43

Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie ist kein Buch, das in die Kategorie „Es wurde schon alles gesagt, aber noch nicht von allen“ fällt, sondern tatsächlich mit wichtigen neuen Erkenntnissen aufwarten kann: Rechtspopulistische Stadtpolitik entpuppt sich hier als „Vorwärts-Zurück zu einem Ausgangszustand, der irgendwo zwischen Alt- und Autostadt liegen soll“.44 Die Herausgeber*innen und ihre Autor*innen lassen die vereinfachende Rede von progressiver Stadt sowie konservativem Land hinter sich und zeigen „zentrale Peripherien“ auf: „In der dem allgemeinen Bild nach eher progressiven Stadt Leipzig gibt es beispielsweise Viertel mit mehr AfD-Wähler*innen als im sächsischen Durchschnitt, dasselbe gilt für einige Stuttgarter Viertel in Bezug zum baden-württembergischen Durchschnitt.“45 Damit erweitern sie die teils „polarisierte sozialwissenschaftliche Forschungsdebatte“ über die Ursachen rechtspopulistischer Gesellschaftstendenzen um eine Kombinationsvariante. Während die eine Forscher*innengruppe vor allem ökonomische Ursachen wie soziale Ungleichheit etc. als Quelle rechter Tendenzen anführt, sieht die konkurrierende Gruppe vor allem eine „eigenständig[e] und strukturell verankerte[e] Dominanzkultur“ am Werk, die die „reaktionäre Verteidigung von Privilegien“46 betreibt. Die Wahrheit liegt wahrscheinlich – und sicherlich für das PODESTA-Team – irgendwo in der Mitte bzw. in einer Kombination von beidem. So wird in einem stark ökonomisch argumentierenden Beitrag von Peter Bescherer die „Prekarisierung des Wohnens durch die Verwertungsstrategie von Marktakteuren sowie die marktorientierte Wohnungspolitik“ als „Bausteine in einem komplexen Begründungszusammenhang“47 angeführt. Gleichzeitig geht es bei den Autothemen – insbesondere im Westen – auch um kulturelle Befindlichkeiten, also „um deutsche Identität, um die Autostadt, männliches Fahren und hiesige Ingenieurskunst“.48 Nur schade, dass der Genderaspekt im Rahmen von PODESTA kaum erforscht wurde – und daher in dem ansonsten verdienstvollen Buch Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie auch unterbelichtet bleibt.

Markus Miessen, Zoë Ritts (Hg.): Para-Plattformen. Die Raumpolitik des Rechtspopulismus (2020)

Während der Band Völkische Landnahme sich den ruralen rechten Räumen widmet und die Bücher Rechtes Denken, rechte Räume? sowie Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie einen starken Forschungsakzent auf urbane rechte Räume legt, bleibt das von Markus Miessen und Zoë Ritts herausgegebene Buch Para-Plattformen – Die Raumpolitik des Rechtspopulismus (2020) bzgl. seiner thematischen Orientierung deutlich unspezifischer, oder positiv formuliert: offener, kurzweiliger, überraschender. Der Band, dessen englische Originalausgabe bereits 2018 publiziert wurde, ist, so die Herausgeber*innen, „als Einführung in eine ganze Reihe von Methoden und Herangehensweisen gedacht“.49 Er geht auf ein 2017 durchgeführtes Symposium der Göteborger HDK Academy of Design im Rahmen des dortigen Design Festivals zurück. Drei Symposiumsbeiträge, die von Hannes Grassegger, Christina Varvia / Forensic Architecture sowie dem Verfasser dieser Zeilen50 stammen, bilden das Herzstück des Buches. Der auf dem Backcover prangende Slogan „Material is never neutral“ wird vor allem durch den Beitrag „Der Stein“ ausbuchstabiert, in dem die Herausgeber*innen von dem gescheiterten Versuch berichten, einen großen, bereits in den 1930er-Jahren gebrochenen Granitbrocken in die Symposiums-Location zu befördern. Der Stein – „für uns ein perfektes Beispiel für die Transformation von Politik in Architektur“51 – war ursprünglich für Germania gedacht, genauer: für die nicht fertiggestellte Soldatenhalle von Wilhelm Kreis. Während dieser Beitrag eher im Anekdotischen verbleibt, macht insbesondere Varvias Beitrag über „Der Fall NSU“ die Nichtneutralität von Material sinnfällig – wenn sie zeigt, wie Forensic Architecture den NSU-Mord an Halit Yozgat in Kassel 2006 mit mikroskopischer Genauigkeit aufarbeitet, um dem Hessischen Verfassungsschutz und seinem am Tatort anwesenden ehemaligen Mitarbeiter Andreas Temme den Prozess zu machen: „Es ist interessant, wenn man einen Raum nicht nur aus einem grundsätzlich architektonischen Blickwinkel betrachtet, als den Ort eines Verbrechens, sondern als einen Raum mit einem bestimmten Volumen an Partikeln.“52 Indem Forensic Architecture Gebäude mit avancierten technischen Methoden als Orte von möglichen Blickregimen, Schussperforationen und Schall- sowie Geruchsausbreitungen analysiert, werden Häuser als aussagekräftige Akteure in einem Indizienprozess definiert – und jegliche Vorstellung einer neutralen Hintergrundarchitektur unterlaufen.

Zwei der lesenswertesten Texte in Para-Plattformen entkoppeln sich völlig von der Materialität gebauter Räume, um eine „Raumpolitik des Rechtspopulismus“ vor allem im digitalen bzw. medialen Raum zu verorten. Neben Grasseggers Beitrag über das mittlerweile aufgelöste und u. a. in die Brexit-Abstimmungen sowie die Trump-Wahl verwickelte Datenunternehmen Cambridge Analytica53 ist hier vor allem der Text „Sich den Terror ausmalen: Propagandakunst von Heute“ des niederländischen Künstlers Jonas Staal zu nennen. Staal analysiert darin en détail das Dokumentarfilmwerk des ehemaligen Trump-Beraters Steve Bannon. Dessen propagandistischer Eifer, der zwischen 2004–2018 in zehn Filmpamphleten kulminierte, erklärt Staal mit dem Schockereignis von 9/11. Dieser islamistische Terrorangriff, so der Künstler, hat aus dem einstigen Liberal-Progressiven einen militanten Reaktionär und erklärten Gegner jeglichen Klimaschutzes gemacht.54 Der Autor geht auf wichtige intellektuelle Stichwortgeber Bannons wie William Strauss und Neil Howe ein, die 1997 das Buch The Fourth Turning publizierten.55 Darin wird ein schematischer Geschichtsdeterminismus entfaltet, der das Auf und Ab aller Zivilisationen mit vier Zyklen von jeweils 80 bis 100 Jahren Dauer beschreibt: Aufstieg, Größe, Niedergang und Ende. Die USA sieht Bannon in einer Phase des Niedergangs, doch mit einem schicksalsergebenen „Fourth Turning“, also dem Untergang des Landes, will sich Bannon nicht abfinden. Er sieht die Zeit gekommen für einen großen amerikanischen Zweifrontenkrieg, bei dem der von Bannon präferierte weiße, christliche, ökonomische Nationalismus nicht umhin komme, sich „gegen den inneren Feind in Gestalt der Davos-Partei [damit meint er die globale Elite des Weltwirtschaftsforums, S. T.] und den äußeren Feind in Gestalt des islamischen Terrorismus“ zu wenden.56 Die Intention des Bannon’schen Propagandafilmwerks besteht für Staal darin, nach einem Ronald Reagan für das 21. Jahrhundert zu suchen, „der dem zweiköpfigen Feind, der Davos-Partei und dem islamischen Terrorismus, die Stirn bietet. Oder wie Bannon es ausdrückt: ‚Ich habe versucht, Film zur Waffe umzuwandeln.‘“57 Staal realisierte im Jahre 2018 am Het Nieuwe Instituut in Rotterdam eine Ausstellung mit dem Titel Steve Bannon: A Propaganda Retrospective, mit der er versuchte, rechte Medienräume ins Museum zu bringen, um sie dort zu dekonstruieren: „Als Künstler und Kulturschaffende sollten wir alles daran setzen, neue Narrative zu entwickeln, wo wir herkommen, wer wir sind und vor allem wer wir noch werden können – und zwar nicht einfach in Form einer Gegenpropaganda, sondern indem wir die Möglichkeit einer emanzipatorischen Propagandakunst ausloten.“58

Der Buchtitel Para-Plattformen, von dem in der Publikation nirgendwo deutlich gemacht wird, was es damit auf sich haben könnte, passt im Grunde ganz gut zur kuratorischen Logik des Buches: Die Dinge und Positionen erscheinen wirkungsvoll nebeneinandergestellt und vor allem vom Kairos, also dem günstigen Moment, zusammengehalten. Manchmal aber auch vom Widerspruch. Das wird etwa beim Vergleich zweier weiterer lesenswerter Beiträge deutlich, nämlich Benjamin H. Brattons „Sind so schwere Heuschrecken – Allochthone Bemerkungen zum Populismus“ und Hito Steyerls „Reden wir über Faschismus“ (einem nachgedruckten Kapitel aus Steyerls Buch Duty Free Art, 201859). Beide Texte muten geradezu antagonistisch an. Während für Steyerl der Faschismus „die ideale Ergänzung zum ‚übersteuerten Kapitalismus‘ zu sein [scheint]: ein eingebauter Wettbewerbsvorteil für Arier“,60 mithin eine Ideologie, die völlig „kompatibel mit den heutigen ökonomischen Paradigmen ist“,61 warnt Bratton mit Blick auf die globale politische Situation (etwa in China) vor einem eurozentristischen Faschismus-Begriff mit folgenden Worten: „Lässt der übermäßige Gebrauch des F-Wortes vermuten, dass Europas Vergangenheit der vorgegebene Maßstab der Zukunft aller anderen Menschen ist? Der Begriff trifft dann zu, wenn man davon ausgeht, dass Europa tatsächlich der Mittelpunkt der Geschichte ist und dass Geschichte in einem geschlossenen Kreis verläuft.“62 Da dürfte wohl eine Variante der Traditionslinken (Steyerl) mit einer Variante des progressiven Liberalismus (Bratton) zusammenprallen. Brattons Ausführungen sind vor dem Hintergrund seiner allgemeinen „Kritik der Indigenität“ zu verstehen, in der Lakota-Stämme in der amerikanischen Prärie, die sich gegen eine Erdölpipeline auf ihrem Territorium wehren, umstandslos mit Le-Pen-Unterstützer*innen in einen Topf geworfen werden. Im Unterschied zu Steyerl stellt Bratton nicht die Macht- und Privilegienfrage – und endet mit einem sich recht naiv lesenden Bonusmeilen-Nomadismus der Bessergestellten: „Ich vermute (und hoffe), dass die derzeitige Welle der Konsolidierung alter Territorien nur eine vorübergehende Unterbrechung einer Entwicklung hin zu einer ganzheitlicheren planetarischen Gesellschaft ist. Was auch immer wir unter ‚wir‘ verstehen – Menschen sind eine Spezies von Migranten und sollten es bleiben.“63

Matthias Kliefoth (Hg.): Einstürzende Reichsbauten. Henrike Naumann mit Angela Schönberger und Andreas Brandolini (2021)

Die Verbindungsebenen von Politik und materieller Kultur, die in Para-Plattformen eher im Anekdotischen bzw. Forensischen verbleiben, erfahren eine mehrdimensionale Neuvermessung in dem zwar schmalen, aber überraschend perspektivenreichen Kunstbändchen Einstürzende Reichsbauten. Von Matthias Kliefoth herausgegeben, liest und blättert sich die Publikation wie ein fruchtbares Blind Date dreier bislang nicht durch intensive Kooperationen aufgefallener Akteur*innen aus den Feldern Kunst, Design und Architekturgeschichte: Die 1984 geborene Künstlerin Henrike Naumann – die sich in ihren Installationen mit dem historischen und gegenwärtigen Rechtsterrorismus in Deutschland auseinandersetzt – trifft auf den 1951 geborenen Designer Andreas Brandolini – der vor allem durch sein 1987 auf der documenta 8 präsentiertes Deutsches Wohnzimmer bekannt wurde – sowie auf die 1945 geborene Kunsthistorikerin und Albert-Speer-Spezialistin Angela Schönberger. Das Büchlein, das zeitgleich zu Naumanns gleichnamiger Ausstellung im Berliner Kunsthaus Dahlem (dem ehemaligen Atelier von Arno Breker) erschien, legt dar, wie die Künstlerin mithilfe von Trash-Mobiliar einige Reenactments erhabener und pseudoerhabener historischer Momente aus der Zeit des Nationalsozialismus umsetzt. So stellt Naumann den Nazi-Festzug zur feierlichen Präsentation des Hauses der Deutschen Kunst in München (heute: Haus der Kunst) nach, indem die Modell-tragenden und mittelalterlich anmutenden Trägergestalten von einst zu hölzernen Gliederpuppen mutierten, die flauschige Flokati-Sitzkissen schultern. Oder: Sie arrangiert Schrankwandelemente so im Raum, dass sie an jenes Alpenpanorama erinnern, welches Adolf Hitler einst aus dem Panoramafenster seines Obersalzberger Berghofs sah. „History repeats itself“, schreibt Kliefoth in seinem Vorwort mit Blick auf die Kapitol-Erstürmung in Washington D.C. vom 6. Januar 2021. Um dann auszuholen: „Rechte Bewegungen sind virulent, gehüllt in Esoterik, Schamanismus und Folklore. Der nächste Trend folgt, beginnend in unseren Wohnzimmern hinter verschlossenen Türen. Die Dinge können uns sicher jetzt schon mehr erzählen.“64

Aber was genau nochmal? Naumann macht in einem Gespräch mit Brandolini deutlich, dass sie mit ihrer Kunst weniger die Trends der Zukunft als vielmehr die Abgründe der Vergangenheit repräsentieren will. Als ihre Leitfrage formuliert sie: „Kann man durch Möbel über Politik und Geschichte sprechen?65 Und erläutert: „Meine Arbeit ähnelt der einer Archäologin: Möbel und Objekte sind für mich dokumentarische Formen. So thematisiere ich in meinen Installationen, welche gesellschaftliche Auswirkungen der postmoderne Bauboom ab 1990 für das Leben der Menschen in der ehemaligen DDR hatte oder was Möbel aus der Zeit des Nationalsozialismus mit uns machen, wenn sie mit den Hinterlassenschaften der Postmoderne zusammen in einem Raum eine anachronistische Vergangenheitsbewältigung und Bestandsaufnahme aufzeigen. Mit dem Fall der Mauer zog die Postmoderne in Form von billigen Kopien in die Wohnwelten der neuen Bundesländer ein, ein Thema, das ich in vielen meiner Installationen aufgreife.“66 Ebenso wird in dem Gespräch deutlich, dass nicht nur Naumanns Möbelinstallationen recht wenig zur Trendforschung via Objektanalyse beitragen dürfte, sondern dass seinerzeit auch Brandolinis Deutsches Wohnzimmer keine Zukunftsprognosen, sondern maximal eine Gegenwartsdiagnose lieferte, die da gelautet haben dürfte: In dem Interieur mit dem wurstförmigen Couchtisch, dem Teppich mit dem Lagerfeuermotiv und dem „Pony-Express“ genannten Fernseher mit seitlichen Ledersatteltaschen richtete sich eine zwischen Archaik und Technikoptimismus changierende und in der Westbindung des Kalten Krieges fixierte bundesdeutsche Gesellschaft der Kohl-Jahre ein.

Im selben Jahr, in dem Brandolinis Deutsches Wohnzimmer präsentiert wurde – also mitten in der Hochzeit der Architektur-Postmoderne –, erschien zum ersten Mal auch Schönbergers Text mit dem Titel „Die Staatsbauten des Tausendjährigen Reiches als vorprogrammierte Ruinen? Zu Albert Speers Ruinenwerttheorie“,67 der in Einstürzende Reichsbauten wiederabgedruckt wurde und auch den zentralen intellektuellen Buchbeitrag bildet. Darin untersucht die Kunsthistorikerin, die sich in den 1970er-Jahren über die Architektur der Berliner Neuen Reichskanzlei promovieren ließ, die sogenannte „Ruinenwerttheorie“ Albert Speers – also die Vorstellung, dass die Staatsarchitekturen des Nationalsozialismus ab einem bestimmten Zeitpunkt deswegen nicht mehr in verkleideter Skelettbauweise errichtet wurden, weil Massivbauten im antizipierten Verfallszustand viel effektvoller antiken Ruinenfeldern wie dem Forum Romanum gleichen würden als Gerüstbauten. Planten also Hitler und Speer im ständigen Bewusstsein eines untergehenden Deutschen Reiches? Schönberger bezweifelt dies stark – und vermutet, dass es sich bei „Ruinenwerttheorie“, die verschriftlicht erstmals in Speers 1969 veröffentlichten Erinnerungen auftaucht, vielmehr um eine im Nachhinein fabrizierte Erklärung handelt, die dem Architekten und Kriegsverbrecher einen kultiviert wirkenden Anstrich verpassen sollte. Denn: Der weitgehende Verzicht auf Stahlbeton in späteren NS-Staatsbauten wie der Reichskanzlei hatte, so Schönberger, nicht ruinenromantische, sondern kriegswirtschaftliche Gründe. Eisen wurde dringend für den Waffenbau benötigt – und musste entsprechend im nichtmilitärischen Bauwesen massiv eingespart werden. Gleichsam kompensatorisch wurde die Steinbeschaffung im Nationalsozialismus von Speer und anderen zu einem Zwangsarbeitersystem entwickelt, bei dem auch die Konzentrationslager Sachsenhausen, Buchenwald, Mauthausen und Flossenbürg systematisch zur Werksteinbearbeitung herangezogen wurden. „Behörden und Industrie“, so Schönberger, „schacherten um Zwangsarbeiter wie um eine Ware oder verschoben sie für Gefälligkeiten. So versprach z. B. Heydrich 1941 für architektonischen Rat und Beistand Speer die Überweisung von 15.000 tschechischen Arbeitern.“68 Schönbergers Text vermag somit die zentrale, weiter oben erwähnte These von Para-Plattformen – „Material is never neutral“ – und darüber hinaus auch noch das Schlüsselbeispiel der Miessen-Ritts-Publikation – nämlich die für Germania geplante Kreis’sche Soldatenhalle – mit architekturhistorischem Kontext zu versorgen, und zwar indem beispielsweise dargelegt wird, dass Speer ab 1941 in seiner Funktion als Generalinspektor für die Neugestaltung Berlins eine eigene „Steinkommission“ unterhielt, die in Höhe von 30 Millionen Reichsmark Lieferungsaufträge an verschiedene Länder vergab, darunter auch Norwegen.69

Fazit

Die besprochenen fünf Publikation zu rechten Räumen machen einmal mehr das weite Feld des Themas deutlich, das immer wieder erstaunliche Schneisen zwischen Kunst und Wissenschaft, Geschichte und Soziologie, Stadt und Land zu schlagen vermag. Alle erwähnten Bücher entstanden in ganz bestimmten ökonomischen und institutionellen bzw. anti-institutionellen Kontexten, und vieles spricht dafür, dass dahinter nicht nur biografisch begründbare Präferenzen stecken, sondern Muster. Konkreter: Es dürfte ein Muster sein, dass die Analysen rechter Raumnahme auf dem Land von höchst risikobereiten investigativen Journalist*innen stammen, die eine erstaunlich detektivische „Sippen-Kompetenz“ an den Tag legen, aber in ihren quasi-soziologischen Erklärungsansätzen vor allem fatalistischen Familialismus bieten. Es dürfte ebenfalls ein Muster sein, dass die Analysen rechter Raumnahme in Städten vor allem aus den Bereichen Soziologie und Geografie stammen, die zu teils wichtigen Erkenntnissen gelangen, aber historisch und kulturtheoretisch noch eher unterbelichtet bleiben. Und es dürfte ebenfalls ein Muster sein, dass die beiden diskutierten Sammelbände aus dem Kunstbereich mit ihrer kuratorischen Logik teils wertvolle Entdeckungen erlauben, methodisch aber über ein „spannendes“ Nebeneinanderstellen kaum hinausgehen. Hier könnte eine künftige „Rechte Räume“-Forschung im Dienste einer emanzipatorischen Gesellschaft und im Sinne einer transdisziplinären Analyse reaktionärer Territorialgewinne ansetzen – idealerwiese auch unter stärkerem Einbezug gender-theoretischer und patriarchatskritischer Erkenntnisse.

1 Zum Thema erschienen vom Verfasse bzw. unter dessen Beteiligung die ARCH+ 235: Rechte Räume – Bericht einer Europareise (Mai 2019) sowie Stephan Trüby: Rechte Räume – Politische Essays und Gespräche, Basel 2020
2 Andrea Röpke, Andreas Speit: Völkische Landnahme – Alte Sippen, junge Siedler, rechte Ökos, Berlin 2019, S. 7
3 Ebd., S. 16
4 Ebd.
5 Ebd., S. 54
6 Ebd.
7 Ebd., S. 134
8 Ebd.
9 Ebd., S. 135 f.
10 Ebd., S. 136
11 Götz Kubitschek: „Leere Räume – Junge Männer“ (2007), in (ders.): Die Spurbreite des schmalen Grats. 2000 – 2016, Schnellroda 2016, S. 242 ff.
12 Ebd., S. 246
13 Röpke, Speit 2019 (wie Anm. 2), S. 141
14 Ebd., S. 155
15 Ebd., S. 156
16 Ebd., S. 172
17 Ebd., S. 69
18 Ebd., S. 76
19 Ebd., S. 77
20 Ebd., S. 76
21 Ebd., S. 9
22 Ebd.
23 Vgl. Lynn Berg, Jan Üblacker: „Rechtes Denken, rechte Räume? – Eine Einführung zum Band“, in: Lynn Berg, Jan Üblacker (Hg.): Rechtes Denken, rechte Räume? – Demokratiefeindliche Entwicklungen und ihre räumlichen Kontexte, Bielefeld 2020, S. 10
24 Ebd.
25 Jan Üblacker, Lynn Berg: „Räumliche Aspekte rechter Orientierungen – Auf dem Weg zu einem konzeptionellen Rahmen“, in: Berg, Üblacker 2020 (wie Anm. 23), S. 26
26 Ebd., S. 21
27 Ebd., S. 27 f.
28 Jan Üblacker, Saskia Kretschmer, Tim Lukas: „Rechtspopulismus: (k)eine Alternative
für Gentrifizierungsverlierer_innen?“, in: in: Berg, Üblacker 2020 (wie Anm. 23), S. 122. Wörtlich steht geschrieben: „Drittens konnte gezeigt werden, dass eine steigende Wohndauer positiv mit der Zustimmung zur AfD zusammenhängt und Befragte in Leipzig gegenüber Befragten in München und Düsseldorf eher die AfD wählen. Eine Erklärung für den Unterschied zwischen den Städten kann der höhere AfD-Wähleranteil in ostdeutschen Städten sein.“
29 Anna Becker, Franziska Schreiber, Hannah Göppert: „Zwischen Netz und Nachbarschaft – Die sozialräumliche Wirkung digitaler Medien im Kontext antipluralistischer Haltungen und politischer Polarisierung“, in: in: Berg, Üblacker 2020 (wie Anm. 23), S. 128
30 Ebd., S. 132
31 Ebd.
32 Ebd.
33 Kubiak erläutert: „Die ‚National befreiten Zonen‘ sind [...] eines der am meisten diskutierten räumlichen Konzepte im deutschen Rechtsextremismus. Die Anfänge des Konzeptes gehen auf einen Artikel in der rechtsextremistischen Zeitschrift Einheit und Kampf sowie auf einen Artikel aus der zweiten Ausgabe der Vordersten Front, einer Zeitschrift des ‚Nationaldemokratischen Hochschulbundes‘ aus dem Jahre 1991, zurück. Hier wurde vornehmlich dazu aufgerufen, die Hegemonie über räumliche Bereiche zu erlangen.“ – Zit. nach Susanne Kubiak: „Rechtsextremistische lokale Raumaneignung im Spiegel des Diskurses – das Beispiel Dortmund-Dorstfeld“, in: in: Berg, Üblacker 2020 (wie Anm. 23), S. 202
34 Ebd., S. 205
35 Ebd., S. 218
36 Kevin Brandt, Milena Durczak, Gerrit Tiefenthal, Tatiana Zimenkova: „Deliberative Räume als Gegenentwurf zu rechten Räumen – das Projekt ZuNaMi“, in: in: Berg, Üblacker 2020 (wie Anm. 23), S. 232
37 Ebd., S. 233
38 Peter Bescherer, Gisela Mackenroth: „Einleitung – Vom Recht auf Stadt zur Stadt von rechts und zurück“, in: Peter Bescherer, Anne Burkhardt, Robert Feustel, Gisela Mackenroth, Luzia Sievi (Hg.): Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie – Stadtentwicklung, Rechtsruck und Soziale Bewegungen, Münster 2021, S. 10
39 Ebd., S. 10 f.
40 Ebd., S. 31
41 Anne Burckhardt, Robert Feustel: „Die Stadt als Projektionsfläche – Antiurbane Narrative von rechts“, in: Bescherer, Burkhardt, Feustel, Mackenroth, Sievi 2021 (wie Anm. 38), S. 54
42 Ebd., S. 56
43 Ebd.
44 Ebd., S. 57
45 Robert Feustel, Luzia Sievi: „Schluss: Für eine Demokratisierung der Städte“, in: Peter Bescherer, Anne Burkhardt, Robert Feustel, Gisela Mackenroth, Luzia Sievi (Hrsg.): Urbane Konflikte und die Krise der Demokratie. Stadtentwicklung, Rechtsruck und Soziale Bewegungen, Münster: Westfälisches Dampfboot, 2021, S. 207.
46 Bescherer, Mackenroth 2021 (wie Anm. 38), S. 12
47 Peter Bescherer: „Solidarität durch Mieterkämpfer? – Nachbarschaftsorganizing im Leipziger Nordwesten“, in: Bescherer, Burkhardt, Feustel, Mackenroth, Sievi 2021 (wie Anm. 38), S. 204
48 Robert Feustel, Luzia Sievi, „Schluss: Für eine Demokratisierung der Städte“, in: Bescherer, Burkhardt, Feustel, Mackenroth, Sievi 2021 (wie Anm. 38), S. 215
49 Markus Miessen, Zoë Ritts: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Para-Plattformen – Die Raumpolitik des Rechtspopulismus, Berlin 2020, S. 8
50 Über „Rechte Räume“.
51 Markus Miessen, Zoë Ritts: „Der Stein“, in: Miessen, Ritts 2020 (wie Anm. 50), S. 216
52 Christina Varvia: „Der Fall NSU“, in: Miessen, Ritts 2020 (wie Anm. 50), S. 129
53 Vgl. Hannes Grassegger: „In Sachen Trump & Brexit“, in: Miessen, Ritts 2020 (wie Anm. 50), S. 75 ff.
54 Vgl. Jonas Staal: „Sich den Terror ausmalen: Propagandakunst von Heute“, in: Miessen, Ritts 2020 (wie Anm. 50), S. 165
55 Vgl. William Strauss, Neil Howe: The Fourth Turning – An American Prophecy, New York 1997
56 Staal 2020 (wie Anm. 55), S. 167 f.
57 Ebd., S. 169
58 Ebd., S. 174
59 Vgl. Hito Steyerl: Duty Free Art – Kunst in Zeiten des globalen Bürgerkriegs, Zürich 2018
60 Hito Steyerl: „Reden wir über Faschismus“, in: Miessen, Ritts 2020 (wie Anm. 50), S. 212
61 Ebd.
62 Benjamin H. Bratton: „Sind so schwere Heuschrecken – Allochthone Bemerkungen zum Populismus“, in: Miessen, Ritts 2020 (wie Anm. 50), S. 65 f.
63 Ebd., S. 66
64 Matthias Kliefoth: „Vorwort“, in: Ders. (Hg.): Einstürzende Reichsbauten. Henrike Naumann mit Angela Schönberger und Andreas Brandolini, Berlin 2021, S. 11
65 zit. nach „Die Trümmer des Deutschen Wohnzimmers – Henrike Naumann im Gespräch mit Andreas Brandolini“, in: Kliefoth 2021 (wie Anm. 65), S. 87
66 Ebd., S. 87 f.
67 Zuerst erschienen in Werner Hoffmann, Martin Warnke (Hg.): IDEA: Werke, Theorien, Dokumente – Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle VI, 1987
68 Angela Schönberger: „Die Staatsbauten des Tausendjährigen Reiches als vorprogrammierte Ruinen? Zu Albert Speers Ruinenwerttheorie“ (1987), in: Kliefoth 2021 (wie Anm. 65), S. 35.
69 Ebd., S. 34