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26. Juli 1955. Ermanno Delugan, Josef Albers, Alexandre Wollner, Irmgard Philippi, N.N., Shoichi Kawai, N.N. Frauke Koch-Weser, Foto: Hans G. Conrad, Copyright: René Spitz
Empfehlung

Wie Design lehren? Hans G. Conrads Fotodokumentation der Kurse von Josef Albers an der HfG Ulm

Eine Rezension von Gerda Breuer

In Zeiten digitalen Entwerfens und der durch die Covid-19-Pandemie in großem Maßstab vorangetriebenen Verbreitung onlinebasierter Lehrformate, weckt dieses Buch Nostalgien. Es zeigt Josef Albers in direkter Interaktion mit seinen Studierenden an der Hochschule für Gestaltung Ulm. „To open eyes“ hatte Albers das Ziel seiner nach seiner Zeit am Bauhaus Dessau in den USA weiterentwickelten Lehre benannt, bei der die Studierenden durch visuelle und haptische Übungen ihre Wahrnehmung umfassend zu schulen lernten, um daraus Konsequenzen für die Gestaltung zu ziehen.

Mit 400 Fotografien aus dem Archiv des einstigen Studenten und fotografischen Kommentators der HfG Ulm, des Designers Hans G. Conrad, wird die Grundlehre von Josef Albers an der Schule zwischen 1953 und 1955 dokumentiert. Conrad hat dem Herausgeber des Bandes, René Spitz, insgesamt mehr als 16.000 Aufnahmen und Papierarbeiten übereignet. Aus diesem Schatz hat Spitz nun den Bildband „Interaction of Albers“ – angelehnt an die Publikation „Interaction of Color“ von Albers aus dem Jahr 1963 – zusammengestellt, der einen Ausschnitt aus den vielen Konvoluten zeigt. Spitz selbst ist ausgewiesener Kenner der Ulmer Hochschule, seine Dissertation mit dem Titel hfg ulm – der blick hinter den vordergrund. die politische geschichte der hochschule für gestaltung ulm 1953-1968 wurde 2002 veröffentlicht.

So berühmt die HfG Ulm als bedeutendste Designschule der (west)deutschen Nachkriegsära ist, in vielerlei Hinsicht ist sie immer noch eine bekannte Unbekannte. Zwar kommt keine Publikation zur Designgeschichte in Deutschland ohne einen Verweis auf die Geschichte der Hochschule aus und auch das Werk namhafter Protagonisten wie Max Bill und Otl Aicher ist heute weitgehend erschlossen. Auch den Arbeiten weniger bekannter Lehrer wie Walter Zeischegg oder Hans Gugelot hat man sich zugewandt.

Und dennoch: Betrachtet man die internationale Aufmerksamkeit, die im Vergleich dem Bauhaus allgemein und noch einmal gesteigert zum 100. Gründungsjubiläum 2019 über ein ganzes Jahr hinweg zuteilwurde, dann ist für die HfG Ulm eine vergleichbare Wertschätzung und Anerkennung undenkbar. Für Spitz war die Schule dennoch, wie er an anderer Stelle bemerkt, „vermutlich die weltweit wichtigste Designhochschule des 20. Jahrhunderts.“ Sie habe „wahrscheinlich einen weiteren, tieferen und dauerhafteren Einfluss als jede andere Ausbildungsstätte auf das moderne Design ausgeübt, auch als das Dessauer Bauhaus.“ Zumindest „die welt neu denken“, der Slogan, den der Bund und der Bauhaus-Verbund 2019 zur Grundlage von mehr als 700 Veranstaltungen und Projekten machten, trifft im selben Maße für die HfG Ulm zu: Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, das Leben vor dem Hintergrund von Faschismus und Krieg neu zu gestalten. Und wie beim Bauhaus waren daran viele Sparten der angewandten Künste – von der Architektur über die visuelle Kommunikation und das Industriedesign, die Neuen Medien und nicht zuletzt der Film – beteiligt.

Die Ulmer stellten sich hier ganz bewusst in die Tradition des Bauhauses. Wie ihr historisches Vorbild, das sich 1919 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und zeitgleich mit der Ausrufung der Weimarer Republik, der ersten Demokratie auf deutschem Boden, gründete, wollten auch die Initiator*innen der HfG Ulm nach der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht einfach eine Designschule gründen, sondern dazu beitragen, mit den Mitteln der Gestaltung eine demokratische und friedliche Gesellschaft aufzubauen. Der Schweizer Architekt und erste Rektor der Hochschule Max Bill, der auch den neuen Hochschulkomplex (1953–1955) entwarf, war 1927/28 Schüler am Dessauer Bauhaus gewesen, in der Zeit als Hannes Meyer Walter Gropius als Leiter des Bauhauses ablöste. 1955 unterrichtete auch der ehemalige Bauhausmeister Johannes Itten für eine Woche in Ulm. Er hatte in der Nachkriegszeit einen immensen Einfluss auf die Lehre in deutschen Grundschulen, insbesondere in der Kunstpädagogik. Der ehemalige Werkstattleiter für Fotografie am Dessauer Bauhaus Walter Peterhans, der 1938 in die USA emigriert war, leitete 1953 als Gastdozent an der HfG Ulm einen Grundkurs. Max Bill holte im selben Jahr die in Deutschland verbliebene ehemalige Bauhäuslerin Helene Nonné-Schmidt an die Schule. Am 1. und 2. Oktober 1955 wurde das neue Schulgebäude feierlich eingeweiht, die Festrede hielt der ebenfalls aus den USA angereiste Walter Gropius. Das Bauhaus stand symbolisch für die gute Vergangenheit, die vom Nationalsozialismus nicht kontaminierte Moderne.

Gerade aber diese symbolische Rolle des Bauhauses in den westdeutschen Nachkriegsjahren ist in den letzten Jahren auch unter anderen Gesichtspunkten diskutiert worden. Das Bauhaus als kultureller Repräsentant der Weimarer Republik und seiner amerikanischen Emigrationsgeschichte bot im angespannten politischen Klima des Kalten Krieges das notwendige kulturelle Kapital, um die demokratische Werte des Westens zu verteidigen. So diente der positive Rückgriff auf das Bauhaus und seiner Erfolgsgeschichte auch als ein probates Mittel der Erinnerungspolitik zur Inszenierung eines demokratischen Neuanfangs in der Bundesrepublik Deutschland.

Von solchen Einordnungen ist das vorliegende Buch frei, man könnte fast sagen, es ist ein ruhiger, ein „beschaulicher“ Band. Die Kargheit der Räume, die fast überwiegend in Schwarz-Weiß gehaltenen Fotografien, die Konzentration auf die Personen und ihr Experimentieren mit einfachen Materialien – sie geben der Bilderreihe die Anmutung des Eigentlichen: der „Interaction“ zwischen Lehrendem und Lernenden.

16. Januar 1954. Paola Mazzetti, Maurice Goldring, Ingela Albers, Christel Sztankovits, Helmut Müller-Kühn, Josef Albers, Otl Aicher, Foto: Hans G. Conrad, Copyright: René Spitz

Dabei war die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg alles andere als ruhig und beschaulich. Spitz beschreibt in seinem einleitenden Essay die zerrüttete Situation nach Kriegsende im Vierzonenland, die bis in die frühen 1950er-Jahre andauerte; erst Mitte der 1950er-Jahre brachen die sogenannten Wirtschaftswunderjahre an. Doch die wirtschaftlich desolate Nachkriegsphase war in Deutschland durch eine kulturelle Aufbruchstimmung in Architektur und Städtebau geprägt. Heute wird die Erinnerung an die Designszene der 1950er-Jahre fast nur noch als Revival der Fifties wahrgenommen. Wenngleich sich der Werkbund in Deutschland aktiv in die Diskussionen um gestalterischen Neuanfang und Wiederaufbau einschaltete, so war die Lichtgestalt dieser Zeit die Ulmer Hochschule.

Doch Spitz geht in seinen den Bildband begleitenden Essays nicht nur auf die besonderen historischen Bedingungen ein, sondern beleuchtet auch die persönlich-professionellen Umstände einzelner Protagonisten näher, allen voran die des Lehrers Josef Albers, der ganz wesentlich an dem programmatischen Aufbau der Hochschule beteiligt war sowie seines Schülers Hans G. Conrad. Conrad spielte von Anbeginn eine wichtige Rolle, er war ein hochgeschätzter Kollege, der an der Gestaltung innovativer Designs mitwirkte, die in die Design-Geschichtsschreibung dieser Zeit eingegangen sind. Er selbst blieb dabei jedoch immer im Hintergrund. Von Starallüren war er offensichtlich völlig frei: „Conrad bereitete den ausführenden Gestaltern die Bühne“, so Spitz. Der Schweizer war von Hause aus Designer. Er absolvierte eine technisch-zeichnerische Ausbildung an der Werkschule von Brown, Boveri & Cie, Ende der 1940er-Jahre fand er Anschluss an den künstlerischen Avantgarde-Kreis rund um Max Bill in Zürich. Als Grafiker entwarf Conrad zwischen 1952 und 1954 Werbung für den deutsch-amerikanischen Möbelhersteller Knoll International, als Produktdesigner entwickelte er zusammen mit Otl Aicher das Messestandsystem „D55“ für den Elektrohersteller Braun. 1952 wirbt Bill den damals 27-jährigen Conrad für den Aufbau der HfG in Ulm ab, er wird am 1. Januar 1953 als erster Student an der Hochschule eingeschrieben, seine spätere Frau, Eva-Maria Koch, war die erste weibliche Studierende. Obwohl Conrad sich schon früh fürs Fotografieren begeistert und viele seiner Bilder der medialen Repräsentation der HfG dienen, ist Eva-Maria Koch wohl auch Urheberin vieler der ihm zugeschriebenen Fotografien, was bis heute jedoch meist nicht eindeutig identifiziert wurde.

16. Januar 1954. Josef Albers, Otl Aicher, Foto: Hans G. Conrad, Copyright: René Spitz

In einem weiteren Essay geht Spitz präzise auf die Spezifik der Albers’schen Lehre ein. Albers, der in den frühen 1920er-Jahren bei Johannes Itten am Bauhaus ausgebildet wurde, leitete von1925 bis 1927/28 gemeinsam mit László Moholy-Nagy den Vorkurs am Bauhaus Dessau. Nach dem Direktorenwechsel und auch dem Weggang von Moholy-Nagy 1928 sowie in der kurzen Berliner Zeit war er alleiniger Leiter des Vorkurses. Tatsächlich war seine Methode richtungsweisend für die Kunstpädagogik und er baute auf ihr am Black Mountain College auf, wo er kurz nach seiner Emigration in die USA 1933 zu lehren begann.

Spitz fokussiert in seinem Essay nicht etwa auf Albers Zeit am Bauhaus, sondern auf seine Zeit in den USA, wo er über 20 Jahre lang arbeite und lehrte. Es fallen Namen von Vorbildern wie der des amerikanischen Reformpädagoge John Dewey, der sich früh für eine demokratische Erziehung einsetzte und der unter dem Stichwort „Learning by doing“ praktische experimentelle Modelle für Schulneugründungen entwickelte. Ebenfalls wird der in Frankfurt lebende Tscheche Max Wertheimer genannt, der 1933, im selben Jahr wie Albers, in die USA emigrierte und dort eine Schule, die New School for Social Research (1933-43) in New York gründete.

Auch der Künstler Hans Hofmann Deutschland gründete 1933 in New York die Hofmann School of Fine Arts, die eine Vorreiterrolle bei der Herausbildung des Abstrakten Expressionismus in den 1940er-Jahren spielte. Albers Ausstellungen mit den zarten geometrischen Zeichnungen und kleinformatigen Bildern standen im Gegensatz zu den großzügigen expressiven Gesten und Farben der abstrakten Expressionisten der damaligen Zeit und sollen in den USA auf Unverständnis gestoßen sein. Albers verfolgte in seiner Gestaltungslehre einen genuin anderen Ansatz, der deutlich pädagogischer ausgerichtet war.

Von einem seiner Kollegen am Black Mountain College, dem Psychologen Erwin W. Straus, lernte Albers motorische Übungen in die Lehre zu integrieren, die den ganzen Körper und haptische sowie visuelle Erfahrung als zentrales Konzept für ein essentielles ganzheitliches Lernen einbezogen. Albers übernahm dabei die Rolle des Begleiters – ein Konzept, dass heute wieder aktuell ist. Die Lehrenden sollen nicht dozieren, sondern die Rolle eines Mentors, eines Coach übernehmen.

Gewellte Papierbilder an der Wand, die „durchsichtig“ gezeichnet werden sollten, Foto: Hans G. Conrad, Copyright: René Spitz

Albers ist gänzlich fixiert auf analoge Verfahren, wenn beispielsweise beim Zeichnen mit dem Stift die physischen Bewegungen des Auges aktiviert werden sollen, um Strukturen eines Objektes besser erkennen zu können. Nach Albers’ Überzeugung behindern Gewohnheiten und erlerntes Wissen die Wahrnehmung der Wirklichkeit. „Zeichne, was du siehst, nicht was du weißt“, lautete ein Motto seiner Zeichenkurse.

3. August 1955. Verabschiedung auf dem Ulmer Bahnhof. Max Bill, Herbert Lindinger, Josef Albers, Hans Schimmel, Almir Mavignier, Foto: Hans G. Conrad, Copyright: René Spitz

Die Fotoaufnahmen des Archivs sind in der Publikation in chronologischer Abfolge ihrer zeitlichen Datierung – auf den Tag genau – abgebildet. Dazwischen finden sich farbige Reproduktionen der zeichnerischen Übungen, die auf die Fotografien abgestimmt sind. Ein erweiterter Index an kleinformatigen Fotografien schließt den Band ab. 

Es ist mit Sicherheit lohnenswert, sich mit der Lehre von Albers in Ulm auch heute noch auseinanderzusetzen. Doch muss die Designlehre immer wieder neu überdacht, justiert und an die sich wandelnden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen angepasst werden. Darauf weist nicht zuletzt die Geschichte der Designlehre selbst hin.

 

Cover Weissbuch, Foto: Sascha Swiercz, Copyright: iF Design Foundation

Umso bemerkenswerter ist es, dass sich René Spitz mit der Designlehre im globalen Rahmen weiterhin auseinandersetzt. Spitz hat heute eine Professur für Designwissenschaft und Designmanagement an der Rheinischen Fachhochschule Köln inne. Im selben Jahr wie das vorliegende Buch erschien die Publikation Designing Design Education: Weissbuch zur Zukunft der Designlehre, herausgegeben von der IF Design Foundation. Idee, Konzept und Durchführung, Dokumentation und Auswertung, Text und Redaktion stammen von Spitz. Die Publikation fasst die Erkenntnisse von fünf Jahren interdisziplinären Austauschs mit über 250 Expert*innen aus 25 Ländern, in Europa, USA, Asien und Afrika zusammen. Die Veröffentlichung will eruieren, wie sich die Lehre vor dem Hintergrund neuer Erfordernisse weiterentwickeln muss, damit sie die Veränderungen in der Gesellschaft erkennen und sie konstruktiv gestalten kann. Das Buch sollte eine Grundlektüre für jede Designschule werden. Zumindest Ursula von der Leyen, die Programm und Slogan eines neues „Europäischen Bauhaus“ in die Welt setzte, um ihren Plan vom Green New Deal voranzutreiben, hat es sich nicht nehmen lassen, das Vorwort zum Weissbuch zu schreiben.

 

Bibliographische Angaben:

René Spitz (Hg.): Hans G. Conrad: Interaction of Albers.
Vorworte von Alexander Wetzig, Stiftung Hochschule für Gestaltung (HfG) Ulm, und Volker Troche, Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen.
Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2021, 304 Seiten, 30 x 30 cm. 726 Abbildungen, Deutsch / Englisch, 78 € 

René Spitz im Auftrag der IF-Foundation (Hg.): Designing Design Education: Weissbuch zur Zukunft der Designlehre. AV Edition GmbH, 2021, Deutsch / Englisch, 312 Seiten, 49 €