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Room 2/3, the Roles of Architecture, selection of 19 housing case studies in multiple cities around the world with models scale 1:50 and 1:20 (metric). Background tree by exhibition architect Carmen Wolf. Graphic Design by Kathryn Gillmore. © Jakob Bahret
Empfehlung

Unter welchen Bedingungen kann man wohnen?

Eine Rezension von Markus Ostermair

Wo soll man anfangen, wenn es um das Thema Obdachlosigkeit geht? Bei Adam und Eva, die von Gott zwar noch betucht wurden (1. Mose 3,21), bevor er sie aus dem Garten Eden vertrieb, aber fortan unbehaust waren und unter Mühsal die Erde, von der sie genommen waren, zu bebauen hatten? Das scheint doch etwas weit gegriffen, schließlich kann die Menschheit auf eine unvergleichliche zivilisatorische Fortschrittsgeschichte zurückblicken, sodass die biblischen Dornen und Disteln ihren Stachel wohl verloren haben, für die meisten von uns jedenfalls. Man möge mir diesen biblischen Anfang verzeihen, während ich um einen Anfang für dieses hochkomplexe Thema ringe, dem ich mich in meinem 2020 im Hamburger Osburg Verlag erschienenen Roman Der Sandler in literarischer Form angenähert habe. Aber vielleicht widmen wir uns zunächst konkreteren Dingen, wobei ich jedoch dafür plädiere, die Genesis und ihre symbolische Ordnung im Hinterkopf zu behalten. Was man ebenfalls im Hinterkopf behalten sollte, ist die Einschränkung, die meine Bibelanspielung begleitet, denn sicherlich sind die meisten von uns Leser*innen dieses Textes nie obdachlos gewesen. Das Auf- und Zusperren einer Tür, das für die psychische Gesundheit so essentielle Unsichtbarwerden im Privaten, die Annehmlichkeiten einer Nasszelle samt Bedürfniskeramik sowie ein weiches Nachtlager sind für uns konkrete Alltäglichkeiten, die so selbstverständlich anmuten, dass sich kaum jemand vorstellt, sie dauerhaft zu verlieren.

Obdachlose? Das sind die anderen. Nun gut, man weiß aus dem Phrasenschatz, dass es „schnell gehen kann“, und wenn man die Zeitungen aufmerksam liest, weiß man auch, dass die Zahlen bzw. die Schätzungen der Zahlen nach oben gehen, aber wie gesagt: Das betrifft andere, und außerdem leben wir in einem Sozialstaat mit entsprechenden Sicherungssystemen, die manche Menschen anscheinend partout nicht in Anspruch nehmen wollen, bzw. die eben nur für „unsere Obdachlosen“ da und vor Ausbeutung zu schützen sind. Die Phrasen, Klischees, Halbwahrheiten und Ressentiments, sie sind Legion. Insofern ist es ein großes Verdienst der Ausstellung „Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt“ im Architekturmuseum der TU München, dass sie – besonders im gleichnamigen Katalog – nicht nur ein Schlaglicht auf dieses oft verdrängte Thema wirft, sondern auch einen kritischen Ansatz verfolgt, der die systemisch-politische Dimension des Problems in den Blick nimmt und sich nicht mit der einfachsten aller Antworten zufriedengibt, nämlich dass Obdachlosigkeit ein individuelles Problem und mitunter gar selbstgewähltes Schicksal sei.

 

Wer schafft das Klima für Obdachlosigkeit?

Die von Daniel Talesnik und einem fünfköpfigen Team aus Studierenden der Architektur an der TUM kuratierte Ausstellung griff dabei auf verschiedene architektonische Elemente zurück, die charakteristisch für den urbanen Raum sind bzw. der Lebensrealität von Obdachlosen entspringen. Den prägendsten Baustein der von Carmen Wolf konzipierten Ausstellungsarchitektur stellten die Litfaßsäulen dar, die aus Pappe gefertigt waren, dem Isolationsmaterial der Wahl, wenn man keine mehr hat und in gepflasterten Nischen nächtigt. Diese Säulen, die zudem im Stadtraum verteilt waren, um auch Fußgänger*innen auf das Thema aufmerksam zu machen, dienten als Informationshubs zum Phänomen Obdachlosigkeit und Projekten zu dessen Bekämpfung. Eine davon befand sich vor der Benediktinerabtei St. Bonifaz, die einen neuralgischen Punkt in der Münchner Obdachlosenhilfe darstellt, da sie eine Essensausgabe mit Tagesaufenthalt, eine Kleiderkammer und Arztpraxis sowie Duschmöglichkeiten beherbergt. Ein weniger auffallendes Element der Ausstellungsarchitektur befand sich auf dem Boden. Dort waren schematische Darstellungen von Betten aufgeklebt, deren Abmessungen und Abstände genau den Verhältnissen in der Bayernkaserne entsprachen, wo in München in der Regel die Unterbringung im Rahmen des Kälteschutzes stattfindet. Ein Bett dort ist 90 cm breit und 200 cm lang und das nächste Bett ist 90 cm entfernt, was einem Raum von 3,6 m² pro Person entspricht, den die Menschen bei Tagesanbruch wieder räumen müssen, es sei denn, es herrscht eine Viruspandemie. Im Zuge ihrer Bekämpfung genehmigte die Stadt München zeitlich befristete Ausnahmeregelungen, die – auch über die Sommermonate hinweg – einen ganztägigen Aufenthalt und eine feste Bettenzuweisung für mindestens eine Woche erlaubten, sodass nicht ständig die Zimmergenoss*innen wechselten.

Im ersten Raum der Ausstellung wurde Obdachlosigkeit als globales Problem definiert, das in unterschiedlichem Maße in vielen Ländern um sich greift. Exemplarisch haben Talesnik und sein Team die Situation in acht sehr verschiedenartigen Metropolen analysiert, von Tokio über Mumbai bis nach Moskau, New York und Los Angeles, die Stadt, welche in den USA den inoffiziellen Titel „Hauptstadt der Obdachlosen“ trägt. Im Katalog, dessen Lektüre größtenteils äußerst gewinnbringend ist, finden sich u. a. zu allen Städten ausführliche Statistiken und Essays, die zumeist auch die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Obdachlose, aber auch die grundsätzlichen Absurditäten beleuchten. In New York beispielsweise wurden in sieben Jahren mehr als „25 Millionen Anträge für rund 40.000 [bezahlbare] Wohnungen eingereicht“ (S. 107). In der San Francisco Bay Area befindet sich – vielleicht wäre das Präteritum korrekter, denn es wurde während der Pandemie geräumt – ein Obdachlosen-Lager in Sichtweite der Facebook-Zentrale, denn trotz (oder wegen?!) solcher Multimilliarden-Dollar-Unternehmen hat Kalifornien die höchste Armutsrate in den USA. Dazu kommen in dem Bundesstaat alljährlich immer verheerendere Waldbrände, die Menschen in wenigen Augenblicken das Dach über den Köpfen entreißen, weshalb auch sie im Katalog als „Klimaflüchtlinge“ (S. 111) betitelt werden.

Die Ausstellung verdient ein großes Lob dafür, das Thema Klimawandel – so und nicht als „Krise“ wird das Phänomen jedenfalls im Glossar des Katalogs bezeichnet – überhaupt mit Obdachlosigkeit zusammenzudenken, wenn auch nur die Opferrolle von Obdachlosen thematisiert wird. In der Tat werden arme und obdachlose Menschen weltweit (viel drastischer „natürlich“ im globalen Süden) am heftigsten unter den katastrophalen Folgen der Klimakrise leiden, doch man hätte auch die Verursacher*innen explizit benennen können, denn je reicher ein Mensch, bzw. je industriell „entwickelter“ eine Nation, desto höher der Ausstoß an CO2. Natürlich soll man sich vor Pauschalisierungen hüten, doch angesichts der massiven, an Pauschalität kaum zu überbietenden Stigmatisierung von Obdachlosen in unseren Leistungsgesellschaften, wäre es doch einmal interessant, nicht nur beim Geld („Leistung muss sich wieder lohnen“, „Wer hart arbeitet oder große Verantwortung [wofür?] trägt, muss auch mehr verdienen“, etc.) das Verursacherprinzip anzuwenden. Man könnte sich die Frage stellen, ob diese Art der Leistung samt ihrer Entlohnung durch Konsum – die auf andauernder Konkurrenz beruht und eine Stigmatisierung gegenüber den „Faulen“, den „Schmarotzern“ usw. erst ermöglicht – überhaupt erstrebenswert und aufrechtzuerhalten ist. Müsste die Rede vom „Leistungsträger einer Gesellschaft“ nicht auf viel energischeren Widerspruch stoßen? Es ist komplex. Und es wird noch komplexer, wenn man eine globale Perspektive einnimmt mitsamt den Migrationsströmen, die allein das Wohlstandsgefälle auslöst, von den Fluchtzwängen wegen der Klimakrise ganz zu schweigen.

 

Ein authentisches Bild der Straße?

In den meisten Beiträgen im Ausstellungskatalog scheint der politische Subtext, der sich hinter dem Phänomen Obdachlosigkeit oft so gut verbergen kann, auch ganz klar durch: Man erfährt, dass unter Reagan in den 1980er-Jahren 40.000 Betten in psychiatrischen Einrichtungen der USA gestrichen wurden (S. 114) und dass das sogenannte „Redlining“ von Versicherungen und Banken ab den 1930er-Jahren die Segregation und rassistische Diskriminierung in den USA de facto aufrechterhalten hat. Dass in São Paulo Obdachlose gezwungenermaßen als Tagelohn-Bauarbeiter*innen an eben jener Gentrifizierung mitwirken, die sie von bezahlbarem Wohnraum ausschließt (S. 135), oder dass es in Russland nicht einmal einen amtlichen Begriff für Obdachlose gibt (S. 141), da die Menschen einfach in sogenannten „Arbeitshäusern“ (oft von skrupellosen Kriminellen betrieben) unsichtbar gemacht werden. Man erfährt, dass das Unterkunftssystem in Deutschland für Paare so gut wie keine Plätze bereitstellt, wodurch die Menschen implizit vor die Entscheidung „Trennung oder Straße“ gestellt werden, auf der sie sich teilweise in Abrisshäusern spezielle Räume für ihre Intimität „einrichten“ (S. 54 ff.). Man kann über den Begriff „defensive Architektur“ – wie sie bspw. in Tokio für die Olympischen Spiele massiv verbaut wurde (S. 169) – stolpern und sich fragen: „Wer sind die Angreifer*innen und welche Waffen haben sie?“ Man kann die Macht der Wörter und Begriffe nachvollziehen anhand der ideologischen Verwendung des Wortes „asozial“ – es kam 1929 in den Duden – durch die Nationalsozialist*innen, die als „Maßnahme zur Reinhaltung des Straßenbildes“ bereits im September 1933 die sogenannte „Bettlerrazzia“ durchführten und Zehntausende verhafteten (S. 60). Freilich hat das Wort die NS-Zeit überdauert und prägte auch Jahrzehnte später noch das gesellschaftliche Klima gegenüber Wohnungs- und Obdachlosen oder Sinti*zze und Rom*nja.

Einzig der Beitrag von Fraya Frehse liefert so gut wie keinen Erkenntnisgewinn, ja ist sogar ärgerlich, denn ihr Ansatz, durch die Befragung von Obdachlosen zu einem tieferen Verständnis der Frage „Was ist die Straße?“ (S. 93) zu kommen, ist absurd. Als hätten die Menschen durch ihren langen Aufenthalt auf eben jener Zugang zu einem quasi mythischen Verständnis davon! So werden Banalitäten aneinandergereiht wie: Die Straße ist ein Ort „des Sich-Hin-und-Her-Bewegens“ und ein „Ort des Wohnens“ (S. 94), oder die „Straße ist eine Lebensphase“ (S. 95), sie besitze also neben einer räumlichen auch noch eine zeitliche Dimension. Nun ja. Frehse nennt am Ende ihrer empirischen Studie drei Herausforderungen für Architekt*innen und eine davon lautet: „Die Umsetzung der zeitlich mehr oder weniger flüchtigen Dimension des Wohnens auf der Straße – ausgedrückt durch den Unterschied zwischen Straßen- und Gehwegbewohner*innen [den Betroffene zuvor gemacht haben] – in architektonisch unterschiedliche, jedoch koexistente Räume“ (S. 96). Was soll das bedeuten? Unterschiedliche Wohnformen für Menschen, die sich zuvor einer bestimmten Gruppe zugehörig fühlten (und die andere Gruppe abwerteten)? Zeitlich flüchtigere Wohnformen für Menschen, die sich auf der Straße wegen mangelnder Fähigkeiten oder Ressourcen nicht „fest“ einrichten konnten?

Generell gibt es in Reportagen (und anscheinend auch in Studien) zum Thema eine fatale, implizite Tendenz zu behaupten, dass man sich bei Aussagen von Betroffenen eine kritische Einordnung des Gesagten sparen könne, da sie ja quasi vollkommen authentisch seien und man sich als Nicht-Betroffene*r kein Urteil dazu anmaßen könne. Fatal ist dies deshalb, weil akut Obdachlose in solchen (für sie und wohl auch für die meisten Nicht-Obdachlosen völlig ungewohnten) Interviewsituationen dazu neigen, den Mythos der Freiwilligkeit zu reproduzieren: „Ich bleibe lieber auf der Straße“, „Ich habe das so entschieden“, „Ich habe hingeschmissen“, etc. Natürlich wäre es ebenso fatal, Obdachlosen a priori jegliche Aussagekompetenz abzusprechen – nichts liegt mir ferner –, doch wie immer hat der Kontext einen gehörigen Einfluss auf die Bedeutung des Gesagten. Erwarten sich die Fragenden von Menschen, die sie sicher nicht seit langer Zeit kennen und zu denen kein besonderes Vertrauensverhältnis besteht, dass sie (womöglich noch für eine anonyme, zum Großteil auf sie herabblickende Öffentlichkeit) ihr Innerstes offenbaren und zugeben, dass sie (jedenfalls nach den dominanten bürgerlichen Maßstäben) „gescheitert“ sind? Dass sie sich als Spielball von Verwaltungsinstitutionen outen, denen sie nicht Paroli bieten konnten, wo doch die so einfach dahingesagten Sätze sich so viel besser in den eigenen Ohren anhören und auch noch dem psychologisch so wichtigen Phänomen der Selbstwirksamkeit schmeicheln? Die Straße erscheint in dergestalt positivistischen Szenarien, die taub für das Framing der Fragenden und für die psychosoziale und schambehaftete Ausnahmesituation der Antwortenden sind, als eine adäquate Wahlmöglichkeit unter gleichwertigen Alternativen. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein, wie ich mittlerweile in vielen Gesprächen mit ehemaligen Obdachlosen erfahren habe, die als Betroffene sowohl anderen als auch sich selbst gegenüber solche Floskeln immer wiederholt haben, um auch weiterhin noch zu funktionieren und sich nicht völlig aufzugeben.

 

Sozial gedachte Architektur

Ein anderer, großer Teil des Katalogs ist dem gewidmet, was im zweiten Raum der Ausstellung präsentiert wurde, nämlich Fotos, Daten und Modelle von 19 Best-Practice-Beispielen aus fünf verschiedenen Ländern. Offen bleibt, wer dieses Urteil über die „best practice“ eigentlich gefällt hat. Diese allem Anschein nach gelungenen Wohnprojekte begreifen Architektur nicht bloß als Schutz vor Witterung, sondern berücksichtigen sowohl soziale als auch ästhetische Bedürfnisse. Manche wie die „Holmes Road Studios“ in London verfügen über einen Garten zum eigenen Obst- und Gemüseanbau, manche sind architektonisch extravagant wie die das Katalogcover zierenden „Star Apartments“ in Los Angeles, und manche wie das „VinziRast“ in Wien bringen Studierende mit Obdachlosen zusammen und schaffen durch eine gemeinsam betriebene Werkstatt und ein Café gleichzeitig noch Erwerbsmöglichkeiten.

In der Ausstellung wurden ebenfalls sehr beeindruckende Videos gezeigt, die z. B. den Alltag eines kurdischen Mannes begleiten, der seit zehn Jahren auf den Straßen Londons lebt. Die meisten dieser Videos – darunter auch die drei über Hong Kong, São Paulo und München, die eigens für die Ausstellung produziert wurden – sind auch weiterhin auf YouTube abrufbar. Das gilt auch für What It Takes to Make a Home, das die beiden Architekten der oben letztgenannten Beispiele, Michael Maltzan aus Los Angeles sowie Alexander Hagner aus Wien, portraitiert, und mit ihnen die sehr unterschiedlichen Städte und Projekte. Die Videos bildeten einen bewegenden Kontrapunkt zur (notwendigerweise) sehr textlastigen Ausstellung, denn nicht nur schaffen sie einen Perspektivwechsel auf Augenhöhe, sondern einmal, aus der Vogelperspektive, wird man auch Zeuge einer Räumung einer Zeltsiedlung in Los Angeles, was einem durchaus die Luft abschnüren kann.

Im dritten und letzten Raum der Ausstellung fand man neben einer Bibliothek zum Thema auch eine Auswahl an deutschen und internationalen Straßenzeitungen, wie etwa der BISS aus München oder der StreetWise aus Chicago. Hauptsächlich aber fokussierte sich der Blick hier auf die Situation in Deutschland. Von Berlin über Hamburg und Leipzig bis Essen wurden zehn Städte von Studierenden der TUM analysiert, wobei neben grundsätzlichen Informationen und lokalen Besonderheiten je ein Obdachlosenprojekt pro Stadt genauer vorgestellt wurde. Das konnten Suppenküchen oder Wohnprojekte sein oder sogar besetzte Häuser, wo langjährig leerstehende Gebäude vor dem Verfall bewahrt und wieder einer sinn- und sozial wertvollen Nutzung zugeführt wurden. Als Ausstellungsort bekam München noch eine ganze Wand gewidmet, die eine große Karte der Stadt zeigte, in der sämtliche für Obdachlose relevante Orte verzeichnet waren, von Langzeitunterbringungen und Notquartieren über medizinische Anlaufstellen bis hin zu öffentlichen Toiletten. Bedauerlicherweise sind weder diese Karte noch die Analysen deutscher Städte und Projekte im Katalog enthalten.

 

Die Sphäre des Wissens und die Sphäre der Macht

Lassen Sie mich nun, am Ende der Ausstellung, noch einmal an ihren Anfang zurückkehren, wo sich ihr ikonischstes Motiv befand, das aus einer anderen Perspektive aufgenommen auch im Katalog abgebildet ist: Die Fotografie zeigt Dutzende Zelte auf einem Platz rund um das Pioneer Monument in San Francisco, in dessen Hintergrund das riesige Rathaus der Stadt emporragt. Sofort ist man geneigt, von „Parallelwelten“ zu sprechen – logisch betrachtet Unsinn, aber unser emotionales Wissen, das sich um analytische Begriffsschärfe meist wenig schert, sagt uns, dass wir es hier mit zwei Sphären zu tun haben, die keinerlei Berührungspunkte aufweisen, was genau besehen natürlich auch nicht stimmt. Denn die Sphäre der Legislative tut, was ihr Name besagt: Sie erlässt Gesetze und Verordnungen, die für alle gelten und deren Unkenntnis in der Regel nicht vor Strafe schützt. Während der Pandemie kamen insbesondere die Abstandsregeln (der Hashtag #socialdistance entbehrt in Bezug auf Obdachlose – wie so viele Begriffe und Redewendungen – nicht einer bitteren Doppeldeutigkeit, von #stayhome ganz zu schweigen) hinzu, welche in dem Bild durch die weißen Rechtecke symbolisiert werden, die von der Stadtverwaltung mit landvermesserischer Präzision auf den Asphalt aufgebracht wurden. Die hygienische Ordnung zwang den Gesetzgeber erstmalig dazu, ein solches Zeltlager – befristet, versteht sich – an einem derart repräsentativen Ort zu genehmigen, denn die Tatsache der Obdachlosigkeit war ja nicht zu leugnen und auf die Schnelle auch nicht aus der Welt zu schaffen, wollte man nicht an den Grundfesten des Systems rühren und den Menschen bedingungslos Zugang zu Wohnungen gewähren.

Ein Blick auf Google Maps – zum Zeitpunkt des Schreibens dieser Rezension war das Zeltlager dort auf der Satellitenaufnahme und manchen Street-View-Bildern sichtbar – verrät, dass sich direkt daneben die Public Library befindet, deren Räume (von den ruhigen Lesehallen bis zu den Toiletten und Schließfächern) von Betroffenen häufig als Rückzugsorte genutzt werden. Diesem Phänomen tragen nicht nur der Anfang des bereits erwähnten Ausstellungsfilms über München und ein Katalogbeitrag Rechnung, die sich dem Münchner Gasteig bzw. der Seattle Public Library widmen, sondern es hat sogar einen Hollywoodfilm inspiriert, der den Titel The Public (2018) trägt. Bibliotheken als Orte des Wissens und der Erkenntnis haben Türen, die tatsächlich allen Menschen, solange sie Kleidung am Leib haben, offenstehen – eine Selbstverständlichkeit, die im gegebenen Kontext dennoch ehrfurchteinflößend ist. Genau deshalb sprach ich, mit einem implizit religiös-mythischen Augenzwinkern, von einem ikonischen Motiv, denn es setzt ins Bild, dass die Sphäre der Gesetzgebung – vormals unter direktem Bezug auf Gott – für das im biblischen Sinne zwar betuchte, aber dennoch nackte Leben des Einzelnen nicht mehr zugänglich ist. Unter den von Menschen gemachten Gesetzen stehen alle Menschen: Tun sie das gleichermaßen oder gibt es nicht eher eine „neue Klassenjustiz“ gegen arme, wie der Jurist und SZ-Journalist Ronen Steinke in seinem aktuellen Buch Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich schreibt, die so „neu“ vielleicht auch gar nicht ist? Doch nur ganz wenige und ganz bestimmte können überhaupt in die Sphäre der Gesetzgebung gelangen, die ihrerseits über Immunität verfügt. Klar, ohne Repräsentation kann es nicht gehen, doch es stellt sich die Frage, ob das nackte Leben der Habenichtse in dieser Welt mitsamt ihren politischen und symbolischen Ordnungen überhaupt repräsentationsfähig ist. Können die Subalternen sprechen mit einer Stimme, die auch etwas besagt? Damit meine ich sowohl die Möglichkeit der wirkungsvollen Selbstrepräsentation jenseits der Erzeugung von Betroffenheit oder des wirkungslosen, weil schon tausendmal wiederholten Verweises auf die Menschenwürde als auch die Möglichkeit, Armut adäquat zu repräsentieren innerhalb eines Systems, das diese Form der Armut mit ihren Konzepten von „Leistung“ und entsprechend gerechter Verteilung überhaupt erst erzeugt. Der Soziologe David Madden spricht es in seinem programmatischen Essay aus: „Obdachlosigkeit wird bestimmten Gruppen angetan“ (S. 40, Hervorhebung im Original).

Architekt*innen allein können das Problem der Obdachlosigkeit nicht lösen, was dem Ausstellungsteam durchaus bewusst ist. Immer wieder wird es als strukturelles, also politisches Problem benannt, was den Katalog so wertvoll macht. Und in der Tat, die Sphären der Legislative und der Armut und existenziellen Not sind voneinander geschieden. Der Prozess der Gesetzgebung ist überhaupt nur vorstellbar, wenn er sich der akuten Nöte des Körpers entledigt hat. Die Repräsentant*innen des Volkes wissen nichts davon, und kommen sie damit in Berührung, sprechen sie wie in Großbritannien von „absichtlicher Obdachlosigkeit“ und sich selbst mit dieser Fiktion frei (S. 36). Denn die Obdachlosen widersprechen nicht. Sie wissen nichts von festen Formen der Repräsentation, sie haben andere Sorgen und weder Baumaterial noch Geld für eine Vertretung. Obdachlose wollen nicht zusammengehören. Stattdessen erkennen sie den unüberwindbaren Graben zwischen sich und den anderen und verfallen darüber in Scham, dieses erste Gefühl des nicht mehr paradiesischen Menschen, das – ein kleiner Wehrmutstropfen am Ende – leider keinen Eingang ins Glossar des Katalogs gefunden hat.

Scham und Beschämung machen Schweigen. Der sich schämende Mensch will unsichtbar werden, besonders wenn sich das Klima der Beschämung ungebrochen fortsetzt, wie es bspw. 1948 der Fall war, als die CSU bei voller Zustimmung der SPD einen Antrag in den Bayerischen Landtag einbrachte, der vorsah, das ehemalige Konzentrationslager Dachau in ein Umerziehungs- und Zwangsarbeitslager für „asoziale Elemente“ umzuwandeln (vgl. Benjamin Bauer: „Arbeitszwang gegen ‚Asoziale‘? Kontinuitäten des KZ Dachau in der unmittelbaren Nachkriegszeit“, in: Wissen Schafft Demokratie – Schriftenreihe des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft Bd. 7, Berlin 2020, S. 158–169). Selbst 1963, als die Errichtung des Internationalen Mahnmals von Nandor Glid im ehemaligen Konzentrationslager Dachau diskutiert wurde, sprach man sich, d. h. die im Comité International de Dachau organisierten Opfergruppen selbst, dagegen aus, die als „asozial“ Verfolgten – ebenso wie die Gruppe der Homosexuellen und die von den Nazis als „Berufsverbrecher“ (oft wegen Armutsdelikten) Stigmatisierten – mit in das Mahnmal zu integrieren (Andrea Riedle/Lukas Schretter (Hg.): Das Internationale Mahnmal von Nandor Glid – Idee, Wettbewerb, Realisierung, Berlin 2015, S. 105). Nur folgerichtig, dass die unter dem NS-Terrorregime als „asozial“ Verfolgten am längsten warten mussten, um durch den Deutschen Bundestag offiziell als Opfergruppe anerkannt zu werden (S. 61), und zwar bis Februar 2020. Da lebte von ihnen schon längst niemand mehr.

Die Ausstellung Who's next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt war vom 4.11.2021 – 6.2.2022 im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne zu sehen. Die Ausstellung macht von 14.10.2022 – 12.3.2023 Station in Hamburg im Museum für Kunst und Gewerbe.
 

Dieser Text erschien zuerst im Mai 2022 in Kunstchronik (75. Jahrgang, Heft 5).

Exhibition entrance with an image in the background of the first temporary sanctioned tent encampment for the homeless, San Francisco, 2020. © Judith Buss
Room 1/3, screening of an excerpt of the documentary Down and Out in America, Lee Grant, 1986. © Jakob Bahret
Architectural model scale 1:50 (metric) of New Carver Apartments done by architecture students at the TUM. New Carver Apartments, 1624 S. Hope St., Downtown, Los Angeles, CA. Designed by Michael Maltzan Architecture, commissioned by the Skid Row Housing Trust, 2006-09. © Jakob Bahret
Room 3/3, exhibition resource library, exhibition architect Carmen Wolf, graphic design by Kathryn Gillmore. Back wall showing a 1:2000 scale (metric) map of central Munich showing institutions that support houseless individuals, public toiltes, et al. © Jakob Bahret

Daniel Talesnik, Andres Lepik und dem Architekturmuseum der TU München (Hg.): Who’s next? Obdachlosigkeit, Architektur und die Stadt

ArchiTangle, Berlin 2022

271 Seiten, 48,00 Euro