Die Großsiedlungen der 60er und 70er stehen im Zentrum von ARCH+ 203: Planung und Realität – Strategien im Umgang mit Großsiedlungen. Großsiedlungen sind Zeitzeugen und zugleich die Problemkinder ihrer Zeit. Sie dokumentieren die Höhenflüge der Boomjahre und die unsanfte Landung in einer Wirklichkeit, die nach anderen und sich ändernden Vorgaben funktionierte, sie dokumentieren gleichermaßen die Leistungen des Sozialstaats und das Versagen der Gesellschaft gegenüber den neu erwachsenden Benachteiligungen, sie dokumentieren in gewisser Weise den oder vielleicht besser: einen Sieg und ein Scheitern der Moderne.
Wir diskutierten anhand des Tour Bois Le Prêtre die Wandlungsfähigkeit von Großbauten. Doris Kleilein schrieb im Artikel Fallstudie 9: Der Tour Bois-le Prêtre in Paris: Die Studie “PLUS – Les grands ensembles de logements – Territoires d'exception“, die Anne Lacaton, Jean-Philippe Vassal und Frédéric Druot bereits 2004 im Auftrag des französischen Kulturministeriums erarbeitet hatten, wendet sich vehement gegen die Abrissvorhaben. “Alles ist besser als die Tabula rasa“ könnte man ihre Thesen zusammenfassen, ein Plädoyer gegen den voreiligen Ersatz der Großwohnungsbauten durch Town Houses oder Blockrandbebauung. ... Man könne, so die Architekten, die ungeliebten Siedlungen mit wenigen Maßnahmen so umbauen, dass größere Wohnungen, neue Typologien und Serviceeinrichtungen in den zeittypisch überdimensionierten Erschließungszonen entstehen. Ein Freiraum tut sich auf. “Die Wohnung von heute ist nichts als die endlose Adaption des Bürgerlichen, angepasst an sozioökonomische Normen“, schrieb Jacques Hondelatte, Lehrer und früherer Partner von Lacaton & Vassal, im Jahr 1985. Gegen diese Art von Wohnung, in der ein Schlafzimmer ein Schlafzimmer ist und das Bad nur der Reinigung dient, argumentieren die Architekten. Sie machen die Grands ensembles zu einem Experimentierfeld für neue Wohnformen, zum “Territoire d’exception“.
Das DAZ schreibt zur Ausstellung:
Die Architekten Frédéric Druot und Lacaton & Vassal unterzogen das schon vor dem Abriss stehende Gebäude einer grundlegenden Sanierung: Mit vorgesetzten Wintergärten und Balkonen vergrößerten sie die Wohnungen und senkten den Energiebedarf; die Mieten blieben dennoch unverändert niedrig und die Mieter konnten während der Bauzeit in ihren Wohnungen bleiben. Dieses Konzept könnte für Architekten, Stadtplaner, Denkmalschützer, Entwickler und Politiker Modell für eine der größten baulichen Herausforderungen der Gegenwart sein: die energetische und soziale Rehabilitation des Massenwohnungsbaus der 60er und 70er Jahre.
Gerade Berlin könnte in dem weltweit diskutierten Projekt entscheidende Anregungen für die Lösung seines drängenden Wohnungsproblems finden. Der im In- und Ausland populären deutschen Hauptstadt geht zunehmend der Wohnraum aus, die Mieten steigen. Gleichzeitig entwickeln sich Großwohnsiedlungen der Nachkriegsmoderne in den Randbezirken Ost- und West-Berlins zu Sammelbecken der Gentrifizierungsverlierer. Vom Tour Bois le Prêtre könnte Berlin lernen, dass man beide Probleme lösen kann, wenn man sie im Zusammenhang behandelt – indem Wohnsiedlungen in peripheren Lagen architektonisch aufgewertet werden, ohne dass die Mieten steigen.
Dieses Konzept legten die französischen Architekten Frédéric Druot, Anne Lacaton und Jean-Philippe Vassal 2004 mit ihrer Studie “PLUS – Les grands ensembles de logements – Territoires d’exeception” vor, die in Frankreich zu großen politischen Diskussionen führte. Denn die Architekten zeigten darin auf, dass man für die gleiche Summe, die Abriss und Neubau eines Apartments kosten, drei bis vier bestehende Wohnungen modernisieren, erweitern und sozial rehabilitieren kann. Der Beweis steht nun im Pariser Norden am Boulevard Péripherique, 16 Etagen hoch: der Tour Bois le Prêtre, 1961 von Raymond Lopez als elegantes Wohnhochhaus mit Split-Level und Maisonette realisiert. 1990 im Rahmen einer haustechnischen Sanierung bis zur Unkenntlichkeit entstellt, war das Haus zehn Jahre später baulich und sozial so verwahrlost, dass der Besitzer, eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, es abreißen wollte. Der aus einem Gutachterverfahren hervorgegangene Entwurf von Druot, Lacaton & Vassal schenkte ihm schließlich ein zweites Leben: Mit wenigen Eingriffen gelang es den Architekten, über die Umnutzung der ehemals überdimensionierten Erschließungszonen größere Wohnungen und neue Serviceeinrichtungen entstehen zu lassen. Das Haus erhielt eine neue Hülle, die gleichzeitig neuen Raum für die vorher kleinen Wohnungen schuf: Die alte Fassade wurde entfernt und zur besseren Belichtung durch raumhohe Glasschiebetüren ersetzt. Jede Wohnung erhielt einen großzügigen Wintergarten und einen Balkon. So gewann eine ehemals 44 Quadratmeter große Wohnung 26 Quadratmeter hinzu – die Miete aber blieb gleich. Alle Bewohner, von denen einige seit 1961 in dem Haus leben, wurden in den Planungsprozess einbezogen und sind geblieben – sie wohnen jetzt besser, ohne mehr bezahlen zu müssen. So gibt das Projekt, wie auch viele andere Arbeiten von Lacaton & Vassal, eine zeitgemäße Antwort auf die Forderung des CIAM Kongresses von 1929, der die Standards für die „Wohnung für das Existenzminimum“ festlegte.
Die Transformation des Tour Bois le Prêtre ist mehr als ein Architekturprojekt - sie ist eine wegweisende Fallstudie für die Aufwertung der Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre. Der Umgang mit diesem baulichen Erbe stellt auch in Deutschland, insbesondere in Berlin, eine enorme Herausforderung dar. Fünfzig Jahre nach dem Bau der ersten Berliner Großsiedlungen, der unter Berufung auf die Forderungen der Charta von Athen und das Leitbild der autogerechten Stadt mit großflächiger "Kahlschlagsanierung" dicht bebauter Gründerzeitviertel einherging, stellt sich vielerorts erneut die Frage nach Abriss oder Sanierung. Im Sinne des Grundsatzes von Druot, Lacaton & Vassal, dass es in der Architektur niemals um das Abreißen, Wegnehmen oder Ersetzen gehen sollte, sondern immer um das Hinzufügen, Transformieren und Wiederverwenden, braucht es für den Umgang mit den Wohnbauten der 60er und 70er Jahre Sanierungs-Verfechter wie damals die Vordenker der IBA Alt. Wie heute Druot, Lacaton & Vassal haben diese die ökonomischen, städtebaulichen und sozialen Vorteile von Altbau-Sanierungen gegenüber Abriss und Neubau nachgewiesen und das Leitbild der "behutsamen Stadterneuerung" etabliert.