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Nikolaus Kuhnert, porträtiert von Christian Werner, 2019
ARCH+ news

Nikolaus Kuhnert mit BDA-Preis für Architekturkritik ausgezeichnet

Wir freuen uns sehr, dass Nikolaus Kuhnert den BDA-Preis für Architekturkritik 2021 erhält. Die Jury unter dem Vorsitz der Präsidentin des BDA, Susanne Wartzeck, würdigt damit das Lebenswerk des langjährigen Mitherausgebers der ARCH+: „Unter Nikolaus Kuhnerts Führung wurde die „Arch+“ ab Mitte der 1980er Jahre zur inhaltlich bestimmenden thematischen Architekturzeitschrift im deutschen Sprachraum. Sie hat über Jahrzehnte hinweg Zukunftsthemen früher als andere erkannt und erörtert, sie setzt bis heute den politischen und gesellschaftlichen Diskurs und konnte insbesondere für Studierende und junge Berufstätige zum intellektuellen Leitmedium und zur Inspirationsquelle in ihrer jeweiligen Zeit werden. Unter Inkaufnahme großer wirtschaftlicher Risiken und durch idealistische Aufopferungsbereitschaft ihrer Mitarbeitenden hat sich die Zeitschrift eine unvergleichliche Unabhängigkeit erhalten, ohne je den inhaltlichen Kern ihrer Arbeit und ihre Zielsetzungen zu verraten.“ Die Preisverleihung findet am 10. September 2021 in Hamburg statt. Mehr Informationen finden Sie hier.

Aus Anlass der Preisverleihung machen wir an dieser Stelle die Würdigung zugänglich, in der ARCH+ Mitherausgeber Anh-Linh Ngo anlässlich des 80. Geburtstags von Nikolaus Kuhnert auf dessen Wirken und Wirkung eingegangen ist. Der Text erschien ursprünglich als Nachwort zur Autobiografie von Nikolaus Kuhnert (ARCH+ 237).

Lernen von Nikolaus Kuhnert
von Anh-Linh Ngo

 

Lektion 1: Misstraue falschen Verabsolutierungen

Als in Berlin die Studierenden im Februar 1968 nach dem „Internationalen Vietnamkongress“ im Audimax der TU auf die Straße gingen, um gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren, ging es, wie Nikolaus Kuhnert in seiner Autobiografie selbstkritisch reflektiert, nicht nur um die Sache. Und die Sache war der brutale und täglich grausamer werdende Vietnamkrieg, einer der heißen Kriegsschauplätze im vermeintlich Kalten Krieg. Dieser Krieg bewegte seine Generation, und das in einem buchstäblichen Sinne. Es ging bei den Protesten auch darum, „in Bewegung zu sein, um im Regelbruch, aber genauso auch im rhythmischen Rufen von Ho! Ho! Chi! Minh! im Laufschritt mich selbst in Bewegung zu erfahren und dadurch als Subjekt der Politik zu begreifen.“[1]

Das erwachende politische Bewusstsein der 68er-Generation speiste sich aus unterschiedlichen Quellen, eine davon war ein latenter, doppelbödiger Antiamerikanismus, der einerseits in der Tradition der linken Kapitalismuskritik wie auch der konservativen Kulturkritik stand, andererseits als Ventil diente, das schwierige Verhältnis zur eigenen Identität nach dem Zivilisationsbruch der NS-Zeit zu externalisieren. So entstand eine explosive Mischung aus Bewunderung und Ablehnung der pax americana, die sich mit der berechtigten Kritik an der US-amerikanischen Außenpolitik der späten 1960er-Jahre verband.

„Zur Besinnung kam ich erst mit der Kritischen Universität“[2], lautet der lapidare Schlusssatz zu dieser Episode in Nikolaus Kuhnerts Biografie. Aber war es wirklich nur die intellektuelle Entwicklung und theoretische Fundierung, die mit der Kritischen Universität einsetzte und ihn vor einer Radikalisierung bewahrte, die manche*n seiner Zeitgenoss*innen erfasste? Ich denke, es muss ein tieferer, in der Person liegender Grund sein, warum er, wie er an anderer Stelle schreibt, „weder zum Polittourismus noch zum Politterrorismus“[3] neigt. Dieser Grund ist in der schrecklichen Erfahrung angelegt, die er als Kind einer jüdischen Mutter in Nazi-Deutschland durchleben musste.

Es ist das Lebensgefühl des Überlebenden, das ihm eine lebenslange kritische Distanz mitgab und ihn misstrauisch machte gegenüber falschen Alternativen und Verabsolutierungen. Dies gilt sowohl auf der politischen als auch auf der architektonischen Ebene: „Die Gegensätze, mit denen [die Berlinische Architektur] sich legitimiert, wie diejenigen zwischen Amerika und Europa, zwischen Stahl/Glas und Stein, sind lediglich konstruiert.“[4] In Zeiten, in denen „imaginäre Kultur­unterschiede“ politisch instrumentalisiert werden, gilt es umso mehr, auf die „gemeinsame Zivilisation“ zu beharren. Auch in der Architektur.

Lektion 2: Das Private ist politisch

Nikolaus Kuhnert und mich trennen Welten. Und doch gibt es ein unsichtbares Band, das die Grundlage unserer gemeinsamen Arbeit an der ARCH+ bildet, ein Band, das bei allen widrigen Umständen hält. Wir denken nicht nur architektonisch gleichsinnig und können uns für die gleichen Entwicklungen begeistern, sondern, was noch viel wichtiger ist, wir sind uns darüber hinaus auch über die politischen Grundfragen und Einschätzung der Tagespolitik häufig einig. Ich habe mich immer gefragt, woher dieses Einverständnis rührt, das uns trotz aller Unterschiede im Alter, in der Lebenserfahrung, im Lebensstil, im Charakter dennoch erlaubt, gleichsinnig zu arbeiten, in der Sache für die ARCH+ aufzugehen. Erst mit der Arbeit an seiner Biografie wurde mir klar, was dies sein könnte.

Er, Jahrgang 1939, dessen Leben noch im Leib seiner Mutter bereits bedroht war, überlebte die Nazi-Zeit nur durch den Sieg der Alliierten. Als Sechsjähriger blickte er von seinem Versteck aus in den Gewehrlauf der russischen Befreier: „So habe ich dem Tod zum ersten Mal ins Auge geblickt, als sich für einen Moment unsere Blicke kreuzten, der Rotarmist auf dem Weg zum Haus, ich verborgen hinter dem Fenster. […] Die Einsicht in die fragile Endlichkeit meines Lebens hat sich schon in meiner Kindheit in mich eingeschrieben.“[5] So erklärt sich vielleicht auch, warum er immer in kritischer Distanz blieb, immer unangepasst, immer aneckte.

Auch ich, Jahrgang 1974, musste früh als Kind als Folge jenes Krieges, gegen den Nikolaus Kuhnert Jahre vor meiner Geburt demonstrierte, die Erfahrung machen, dass das Leben endlich ist. Meine Eltern, noch in der französischen Kolonialzeit ausgebildet, gehörten zur gebildeten Schicht, die von der zaghaften kulturellen Öffnung profitierte, die das westlich orientierte Südvietnam trotz Krieg und politischer Instabilität in dieser Zeit erlebte. Für sie war der Name Ho Chi Minh, den die Berliner Studierenden zum begeisterten Schlachtruf ihrer Generation machten, mit realer politischer Unfreiheit und Unterdrückung verbunden. So flohen wir nach dem Krieg als Boat People aus dem kommunistisch wiedervereinigten Vietnam. Von den Eltern getrennt, wurde ich in buchstäblich letzter Minute aus Seenot gerettet. Hätte nicht eine durch einen Sturm verirrte Brieftaube der US Navy unser Boot mitten im unendlichen Ozean als Zuflucht genutzt, hätten wir sie nicht als unverhofften Boten eingesetzt und unseren Hilferuf an ihren Fuß gebunden, den sie schließlich zur Basis zurückbrachte und eine erfolgreiche Rettungsaktion auslöste, ich wäre in derselben Nacht in den Fluten eines heraufziehenden Taifuns ertrunken. Als Flüchtling wurde ich in Deutschland aufgenommen.

Wir kamen also aus gegensätzlichen Richtungen in diese Gesellschaft. Und obwohl sie für so etwas Unaussprechliches wie den Holocaust verantwortlich war und den Großteil seiner jüdischen Familie ermordete, glaubte Nikolaus Kuhnert an ihre Reformierbarkeit. Er und seine Generation rangen um den fragilen zivilisatorischen Fortschritt, den wir heute mit 68 in Verbindung bringen. Während er ihr trotz seiner grundsätzlichen Skepsis eine zweite Chance gab, gab eben diese Gesellschaft, für die er einstand, mir eine zweite Chance. Mein Leben wäre anders verlaufen, hätte es die emanzipatorischen Errungenschaften nicht gegeben, für die seine Generation kämpfte und die heute wieder umkämpft sind. Die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung wühlt uns deswegen so sehr auf, weil wir intuitiv wissen, was auf dem Spiel steht: Wir müssen um die demokratischen Grundwerte kämpfen, als würden wir um unser Leben kämpfen – weil wir um unser Leben kämpfen.

Lektion 3: Wer eine Haltung hat, kann beweglich bleiben

Dieses Gefühl des Überlebenskampfes gilt auch für die Art, wie Nikolaus Kuhnert jahrzehntelang die ARCH+ gemacht hat. Er ist, seitdem er die Zeitschrift hauptberuflich herausgibt, nie durch irgendwelche Posten abgesichert, und musste entsprechend auch nie Rücksicht nehmen. 2004 ging ich nach Berlin, um mit ihm zu arbeiten. Die materiellen Umstände waren in den Anfangsjahren prekär, und sind es bis heute, auch wenn wir die Arbeitsbedingungen wesentlich verbessern konnten. Als ich anfing, saßen wir beengt zu zweit im Keller seines Hauses, arbeiteten mehr oder weniger isoliert an den Heftthemen. Heute kämpft die ARCH+ weiterhin bei jeder Ausgabe um das Fortbestehen, doch sind die Voraussetzungen, unter denen wir heute arbeiten, völlig andere. Was sich jedoch nie geändert hat, ist das Gefühl, das Nikolaus Kuhnert mir vom ersten Tag an vermittelte: dass es bei der Zeitschrift nicht um ein Spiel im akademischen Meinungsstreit, sondern um etwas Notwendiges geht, ein politisches Projekt, das ins Private reicht.

Legendär sind sein ansteckendes Sendungsbewusstsein und seine Fähigkeit, Dinge zuzuspitzen, worüber andere Zeitschriften, die darauf bedacht sind, sich nach allen Seiten abzusichern, nur verständnislos den Kopf schütteln. Man eckt schließlich nicht mit der tendenziell konservativen Klientel an und vermeidet es tunlichst, die Anzeigenkunden zu irritieren. Ich erinnere mich noch lebhaft an das Unverständnis, das uns entgegenschlug, als wir Peter Sloterdijk mit Architekturen des Schaums 2004 eine ganze Ausgabe widmeten – die erste, die ich mit Nikolaus Kuhnert in Berlin umsetzte. Uns wurde süffisant zugetragen, dass die Redaktion einer etablierten Architekturzeitschrift sich gegenseitig die Texte vortrüge und dabei krummlachte. Er hat sich von so etwas nie beirren lassen, denn es zeigte sich stets, dass die anderen nach Jahren auch selbst darauf kommen würden. So dauerte es noch ganze 5 Jahre, bis die Thesen Sloterdijks auch den offiziösen Architekturdiskurs erreichte und der BDA Peter Sloterdijk mit dem Preis für Architekturkritik auszeichnete. Für mich war es eine Feuertaufe, die mich von Anfang an für den zu erwartenden Gegenwind wappnete, mir aber vor allem zeigte, was Haltung bedeutet.

Die Themenbreite und Agilität der ARCH+ verwirren die Zeitgenoss­*innen. Diese Beweglichkeit wird jedoch von einer Grundhaltung getragen, die mit einem Linkssein nur unzureichend beschrieben wäre. Sie liegt vielmehr in den Lebenserfahrungen begründet, die ich oben beschrieben habe, und verbindet sich mit dem Überlebenskampf der Zeitschrift zu einer eigensinnigen Haltung. Sie schützt ebenso vor Dogmatismus, eine Gefahr, auf die Nikolaus Kuhnert nicht müde wird hinzuweisen. Sie erlaubt es uns zudem, aktiv auf die widrigen Umstände zu reagieren und die ARCH+ stets neu zu erfinden, ohne dass der inhaltliche Kern verloren geht. Bis 2016, als Nikolaus Kuhnert schwer krank wurde und nicht mehr im Alltag mitarbeiten konnte, haben wir die Zeitschrift gemeinsam vorangebracht. In diese Phase fielen die entscheidenden Weichenstellungen. Wir haben die ARCH+ in den letzten Jahren als gemeinnützige Struktur neu aufgestellt, um ihre Unabhängigkeit und ihre inhaltliche Unbestechlichkeit, für die Nikolaus Kuhnert wie kein zweiter steht, vor dem Zugriff von außen zu schützen und in die Zukunft zu tragen.

Lektion 4: Wider die Geschichtsvergessenheit

Doch was wird die Zukunft bringen? Die politische Entwicklung gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Täglich werden Tabus gebrochen, Synagogen werden wieder angegriffen, Menschen ermordet. Soeben konnte in Thüringen eine völkische Partei ihren Stimmanteil auf 23,4 Prozent fast verdoppeln, in Sachsen waren es 27,5 Prozent und in Brandenburg 22,2 Prozent. Wenn im Osten rund ein Viertel der Bevölkerung eine Partei mit rechtsextremistischen Zügen wie die AfD wählt, darf man sich nicht wundern, dass sich Extremist*innen zu solchen Taten wie in Halle aufgerufen fühlen, da sie sich in der Mitte der Gesellschaft wähnen. Der Antisemitismus ist kein Gespenst mehr, er lebt wieder in der Mitte der Gesellschaft. Derweil die unbesorgten Bürger*innen immer noch der Meinung sind, dass es sich nur um den „Bodensatz der Gesellschaft“[6] handele, der sich offen antisemitisch und rassistisch zeige. Oder den Antisemitismus externalisieren und ihn für ihren eigenen, etwa antimuslimischen Rassismus instrumentalisieren. So hat etwa der Axel-Springer-Vorstandsvorsitzende und Präsident des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger Mathias Döpfner den Anschlag in Halle, der von einem Deutschen aus Judenhass verübt wurde, zum Anlass genommen, in einem ganzseitigen Leitartikel in der Welt unter dem Titel „Nie wieder ‚nie wieder‘!“ eine Verschärfung der Flüchtlingspolitik und ein härteres Vorgehen gegen sogenannte „Ausländerkriminalität“ zu fordern.[7] Was will uns Döpfner damit sagen? Dass der böse Ausländer mit seinem fremden Antisemitismus erst den einheimischen Antisemitismus schüre, der bisher nur in der braven deutschen Seele schlummerte? Dieser Gedankengang zeugt von einer Geschichtsvergessenheit und intellektuellen Schäbigkeit, die sprachlos macht.

Das „Nie wieder!“ der Nachkriegsgesellschaft wird so nicht nur ad absurdum geführt, sondern inzwischen auch von der „Schuldkult“-Rhetorik eines Björn Höcke oder Alexander Gauland übertönt. Den Mord an Millionen Juden bagatellisiert Letzterer als „Vogelschiss in der Geschichte“. Beide fordern eine „erinnerungspolitische Wende“, was nichts anderes meint als die Sehnsucht nach dem Vergessen, nach dem Ausblenden der unangenehmen Wahrheit.

Mit ARCH+ 235 Rechte Räume – Bericht einer Europareise haben das IGmA der Universität Stuttgart und ARCH+ dieses Jahr versucht, dieser hässlichen Wahrheit ins Gesicht zu schauen und den Rechtsruck in Europa raumpolitisch zu diskutieren. Und wieder sind wir auf völliges Unverständnis gestoßen. Dass Worte und Haltungen reale Konsequenzen haben und nicht nur unverbindliche Spielerei sind, fällt gerade der schreibenden Zunft ziemlich schwer zu verstehen. Ein „Stararchitekt“, der ein antisemitisch konnotiertes Zitat als Inschrift auf einem öffentlichen Platz benutzt, wird von Leuten wie Arnold Bartetzky, der übrigens im Beirat des sogenannten Deutschen Instituts für Stadtbaukunst von Christoph Mäckler sitzt, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als Opfer bemitleidet und verteidigt, während man uns Diffamierung vorwarf, weil wir an den altbekannten Fall des Walter-Benjamin-Platzes erinnerten, den Hans Kollhoff mit einem Ezra-Pound-­Zitat zierte. Verkehrte Welt. Die Täter-Opfer-Umkehrung funktioniert weiterhin verlässlich. Wenn man solch abgeklärte Repliken wie jene von Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung liest, dann soll man wohl Mitleid mit dem Antisemiten Ezra Pound haben, während von Walter Benjamin, dem eigentlichen Opfer nicht nur der Nazis, sondern auch der Platzgestaltung von Hans Kollhoff, wenn überhaupt, ohne jegliche Empathie die Rede ist.

Woher rührt diese Denkfaulheit? Woher die Sehnsucht nach der Behaglichkeit der Geschichte, nach historisierender Architektur, nach „Europäischer Stadt“, nach Ursprungsmythen, nach Schlussstrich? Weil man vergessen will. Wir haben es, psychoanalytisch gesprochen, mit gesellschaftlichen Verdrängungsprozessen zu tun. Dagegen hilft nur Erinnerung. Oder wie es der Philosoph Klaus Heinrich in seiner Dahlemer Vorlesung zur Psychoanalyse Sigmund Freuds zuspitzte: „[N]ichts, woran Sie sich erinnern können, ist vorbei. […] Erinnerungen halten Nichtbewältigtes, nichtgelöste Konflikte fest; bedeuten nicht die Bewegung nach innen, das Wegtauchen in Ursprünge, in denen man sich konfliktenthoben heimisch fühlt, sondern fordern dazu auf, in den mühsamen Prozeß der Auseinandersetzung mit gattungsgeschichtlich unerledigten Konflikten einzutreten und in ihm fortzufahren.“[8]

Die Autobiografie Nikolaus Kuhnerts, die wir hier als Ausgabe von ARCH+ herausgeben, ist die Erinnerungsarbeit eines Überlebenden. Sie ist gegen das Vergessen gerichtet. Denn das, woran er erinnert, geht uns heute unmittelbar etwas an. Im Kapitel zur Digitalisierung erinnert Nikolaus Kuhnert an die „informationstechnischen Voraussetzungen des Holocaust“, die mit den technischen Mittel der Zeit, der Hollerith-Maschine, verbunden war: „Der Grund, warum mich das so bewegt, ist, dass ich schon einmal in diesem Sinne digital erfasst worden bin. Als ich zwei Monate alt war, im Mai 1939, wurde in Deutschland eine Volkszählung durchgeführt. […] Götz Aly und Karl Heinz Roth kommen in ihrem Buch Die restlose Erfassung zu dem Schluss, dass die Volkszählung von 1939 zu großen Teilen auch der Vorbereitung des Krieges und der systematischen Vernichtung der Juden dienen sollte. Im Zuge der Volkszählung waren alle Haushalte verpflichtet, eine ‚Ergänzungskarte‘ auszufüllen, auf der die Religionszugehörigkeit aller vier Großeltern jedes Haushaltsmitglieds anzugeben war, wodurch deren ‚Rassezugehörigkeit’ bestimmt wurde. […] 1942 wurden alle Karten, auf denen Personen mit einem oder mehreren jüdischen Großelternteilen verzeichnet waren, gesammelt und dem Reichssippenamt übergeben. Im Falle meiner Familie verhinderte nur der Sieg der Alliierten 1945 die nächste Etappe nach der Erfassung unserer Daten.“[9]

Im Zuge der Recherche zu dem Heft stieß meine Kollegin Alexandra Nehmer, die dieses Heft als Projektleiterin wesentlich verantwortete, auf die digitalisierten Einträge der Ergänzungskarten der Familie Kuhnert aus der Volkszählung von 1939. Die Ergänzungskarten gingen nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst in den Besitz des Staatsarchivs der DDR und dann in den des Bundesarchivs über, das sie in den 90er-Jahren in eine digitale Datenbank überführte. Auf Basis dieser Datenbank, ergänzt um weitere Daten, etwa zur späteren Verhaftung, Deportation oder Ermordung der bei der Volkszählung Erfassten, hat die 2014 gegründete Berliner Initiative Tracing the Past e. V. im Rahmen ihres Projekts Mapping the Lives einen interaktiven Stadtplan erstellt. Er soll die Biografien und Wohnadressen aller in Europa durch das NS-Regime Verfolgter dokumentieren und öffentlich zugänglich machen.[10]

Bei der Volkszählung wurde Nikolaus Kuhnert gemeinsam mit seinen Eltern am 17. Mai 1939 an ihrem Wohnort in der Schubertstraße 2 in Potsdam-Babelsberg erfasst, ihm wurde die Identifikationsnummer VZ289389 zugewiesen, sein Geburtsdatum und -ort dokumentiert und festgehalten, dass er jeweils zwei jüdische und nichtjüdische Großeltern hat.

Diese Entdeckung erschütterte uns tief, konfrontierte doch der Eintrag in der Datenbank uns, die wir digital sozialisiert sind, auf eine uns zugängliche Weise mit der unaufgearbeiteten Geschichte, die uns wieder heimsucht. Die Spuren dieser Geschichte sind noch gegenwärtig. Und sie verweisen auf das, was uns mit den digitalen Mitteln von heute an Gefährdungen noch bevorstehen wird.

Lektion 5: Nichts ist erledigt, nichts ist vorbei.

 

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Anmerkungen

1 S. 37
2 Ebd.
3 S. 35
4 S. 113
5 S. 24–26
6 Jasper von Altenbockum: „Schüsse aus dem Bodensatz der Gesellschaft“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9.10.2019, www.faz.net/aktuell/politik/kommentar-zum-terroranschlag-auf-synagoge-in-halle-16425307.html (Stand: 27.10.2019)
7 Mathias Döpfner: „Nie wieder ‚nie wieder‘!“, in: Die Welt, 10.10.2019, www.welt.de/debatte/kommentare/plus201718856/Terror-in-Halle-Nie-wieder-nie-wieder.html (Stand: 28.10.2019)
8 Klaus Heinrich: Dahlemer Vorlesungen, Band 7 – ­Psychoanalyse Sigmund Freuds und das Problem des konkreten gesellschaftlichen Allgemeinen, hrsg. v. Hans-Albrecht Kücken, Frankfurt a. M./Basel 2001, S. 59
9 S. 101
10 www.tracingthepast.org, www.mappingthelives.org. Randnotiz: Die Startseite von www.tracingthepast.org ziert zufällig eine historische Fotografie des Karstadt-Kaufhauses am Hermannplatz in Berlin. Das Immobilienunternehmen Signa des österreichischen Investors René Benko, dem Karstadt gehört, will derzeit dieses Gebäude nach Plänen von David Chipperfield rekonstruieren lassen. Benko wurde von Karl-Heinz Strache im Zuge der Ibiza-Affäre als Spender der FPÖ genannt.