„Das ist eine Once in a Lifetime-Chance“, sagte Marion, als wir nach einem langen Arbeitstag für die bauhaus imaginista Ausstellung zusammen in einem Restaurant im Berliner Zeitungsviertel saßen. Marion war kurze Zeit vorher mit ihrem Partner Peter Spillmann ins neue Quartier an der ehemaligen Blumengroßmarkthalle gezogen und die ARCH+ ebenfalls. In dieser bis dahin für uns recht unbekannten Ecke zwischen Friedrichstraße und Hallesches Ufer saßen wir und sprachen über das untote Bauhaus und die Postpunk-Ära, diskriminierende Strukturen in der Kunstausbildung und unsere Jugend im Ruhrgebiet. Marion wirkte an diesem Abend selbst wie eine Jugendliche auf mich, die es mit allen Ungerechtigkeiten der Welt aufnehmen wollte. Sie konnte dabei spitz kritisieren, alles spielerisch miteinander in Beziehung setzen und intellektuell durchdringen, ohne jemals abgehoben zu wirken. In jedem Argument vermittelte sich ihr Drang, die Welt ein Stück gerechter machen zu müssen.
Mit „hey Christian, das ist eine Once in a Lifetime-Chance“ eröffnete Marion mir, mit nach Nigeria zu reisen, genauer gesagt nach Ile-Ife, wo der Bauhausstudent Arieh Sharon ab den 1960er-Jahren einen gigantischen Universitätscampus als architektonisches Zeichen der Unabhängigkeit des Landes nach der britischen Kolonialherrschaft gestaltete. Für bauhaus imaginista hatte Marion den Architekten Zvi Efrat eingeladen, einen Film darüber zu realisieren. Es sollte sein erster Film werden. Neben den Dreharbeiten in Ile-Ife stand auch das Symposium Decolonizing the Campus, das sie in Lagos organisierte, auf dem Programm der Reise.
Obwohl ich Marion erst wenige Jahre kenne, hatte sie mir schon einige solcher Once in a Lifetime-Momente eröffnet. Zum Beispiel ermöglichte sie mir einen Forschungsaufenthalt in Cambridge, um mich auf Spurensuche nach den Auswirkungen des Bauhaus am Massachusetts Institute of Technology zu begeben. Nicht die üblichen Verdächtigen, György Kepes und Otto Piene, sondern die Grafikdesignerin Muriel Cooper war es, die Marion und mich in den Bann zog. Cooper hatte sich in vielerlei Hinsicht auf das Bauhaus bezogen, uns faszinierte aber besonders, wie sie oftmals barfüßig auf Tischen sitzend das männlich geprägte Institut mit ihrem Nonkonformismus, ihrer Intelligenz und ihrem Charme auf den Kopf stellte. Muriel Cooper verstarb überraschend 1994 viel zu jung mit 68 Jahren. Es heißt, sie habe mit ihrer Arbeit Bill Gates und Steve Jobs sowie Generationen von Grafik- und Mediengestalter*innen geprägt. Marion hat sich immer für diese Art der inoffiziellen Geschichtsschreibung interessiert, die neue Zusammenhänge in den Fokus rückt.
Die Impulse, die Marion mit ihrer Arbeit ausgelöst hat, werden bereits von vielen Kolleg*innen, Partner*innen und Schüler*innen ausführlich gewürdigt und weitergetragen. Ihr Beitrag zur Veränderung des Diskurses wird noch über viele Jahre nachwirken und nachhallen. Sie schreckte dabei nicht davor zurück, in größeren Zusammenhängen zu denken. So entstand auf der Reise an die Obafemi Awolowo University in Ile-Ife in einem spontanen Gespräch vor Ort zwischen Eyitope Ogunbodede, Vizekanzler der Universität, Regina Bittner, Zvi Efrat und Marion die Perspektive auf eine Bewerbung der Anlage als UNESCO-Welterbe.
Zurück in Berlin luden wir zusammen mit dem HKW Bayo Amole, Olubola Babalola und Babatunde E. Jaiyeoba, drei Professor*innen der Universität, zu einem ARCH+ Salon ein, bei dem die Gäste aus Ile-Ife gemeinsam mit Marion, Zvi und mir das Projekt vorstellten und weiterdachten. Bis zum Welterbe ist es noch ein weiter Weg, aber ein erster erfolgreicher Schritt ist gemacht: Die Obafemi Awolowo University wurde in diesem Jahr ins Getty Foundation Programm „Keeping It Modern“ aufgenommen. Ohne Marion als Vermittlerin wäre diese Möglichkeit niemals entstanden.
Letztes Jahr im Sommer, kurz nach dem Abschluss von bauhaus imaginista, sprachen wir über Marions neues Thema „Cohabitation“. Ihre Gedanken zum gleichberechtigten Zusammenleben von Tieren und Menschen in den Städten waren bahnbrechend. Und wieder entstand so ein „Once in a Lifetime“-Moment, der zu einer Zusammenarbeit mit ARCH+ und der gemeinsamen Entwicklung des Projektkonzepts Cohabitation und schließlich der Förderung durch die Kulturstiftung des Bundes führte. In einer E-Mail an mich bezeichnet Ute Meta Bauer sie als eine „wegweisende Kuratorin, die sich nicht vereinnahmen ließ“, als eine „Humanistin und Posthumanistin“. Nicht nur die Würde ALLER Menschen war Marion ein wichtiges Anliegen, sondern – wieder einen Schritt weitergedacht – die Würde allen Lebens stand im Mittelpunkt des neuen Projekts Cohabitation.
Die Hoffnung, die Ausstellung gemeinsam fertig zu stellen und das Programm zusammen zu erleben, erfüllt sich nicht. Es bleibt an uns, das mit ihr konzipierte Projekt in ihrem Sinne und in Zusammenarbeit mit Peter Spillmann fortzuführen. Wir halten auf diese Weise ihre Art zu denken lebendig.
Marion von Osten war eine bahnbrechende Kuratorin und kritische Vordenkerin, die sich offen auf Neues einließ und niemals vorherrschende Grenzen akzeptierte. Souverän, jedoch nie abgehoben, strebte sie stets das Miteinander an, und wenn es sein musste, kämpfte sie wie eine Löwin für ihre Überzeugung. Für mich persönlich lag ihr größtes Talent darin, diese besonderen Once in a Lifetime-Situationen zu erzeugen, Menschen und Themen zusammenzubringen, Momente und Räume zu erschaffen, in denen bisher Ungedachtes gedacht werden kann und völlig Unerwartetes möglich wird. Marion hat in ihrem Leben sicherlich hunderte solcher Momente mit Menschen auf der ganzen Welt entwickelt und unzählige neue Perspektiven für ihre Mitstreiter*innen eröffnet. Sie war eine Kuratorin von Situationen, in denen wir die Welt mit anderen Augen betrachten und dadurch die Chancen erkennen, wie wir sie für alle ein Stück weit verbessern können. Marion wird sehr fehlen.
In tiefer Trauer
Christian Hiller