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Foto: Markus Bader
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In memoriam Martin Kaltwasser (1965–2022)

Nachruf von Christian Hiller

Kennengelernt habe ich Martin Kaltwasser 2006 bei den Vorbereitungen zur Ausstellung Talking Cities in der Zeche Zollverein. Für die Installation Der Steiger sammelte Martin Kaltwasser zusammen mit Folke Köbberling, Christian Maier und mir Speermüll in den Straßen von Essen-Katernberg, eine der ärmsten Gegenden des Ruhrgebiets. Wir fragten stets freundlich nach alten Baumaterialien und Resthölzern, die zur Konstruktion des Steigers geeignet waren, und stießen auf jede Menge Verwunderung. Wie und warum sollte man aus Abfall Kunst oder gar Architektur machen? Aber aus den alten Brettern und Plexiglasresten bauten Martin, Folke und Christian mit einigen Unterstützer*innen dann mitten in der Ausstellung die Aussichtsplattform Der Steiger, benannt nach den Bergmännern des Ruhrgebiets. Die Arbeit wurde zum Statement für die unmittelbare und heiter improvisierende Aneignung und Umnutzung „entsorgter“ Materialien, für ein ökologisches und soziales Umdenken, wie es heute wichtiger denn je ist.

Martin Kaltwasser, 1965 in Münster geboren, hatte Kunst in Nürnberg studierte, lebte und arbeitete ab 1988 in Berlin, wo er bis 1997 Architektur studierte. Disziplinübergreifend arbeitete er als Grenzgänger zwischen Architektur, Kunst und Aktivismus. Nach Talking Cities blieben wir in Kontakt und ich war immer wieder fasziniert von seinen visionären Projekten, die er – bis 2013 im Team mit Folke Köbberling – zunehmend auch international verwirklichte. Partizipation und Teilhabe standen immer zentral in Martins Arbeiten. Nicht nur in dem Sinne, dass die Freiwilligen den Künstler*innen praktisch halfen, sondern dass sie integraler Teil des gesamten Gestaltungsprozesses wurden. Legendär ist das Jellyfish Theatre, welches Folke und Martin 2010 in der Londoner Innenstadt mit mehr als 100 Freiwilligen auf einem Grundschul-Sportplatz realisierten. Aus Baugerüsten, Materialabfällen, ausrangierten Bühnenkulissen und Europaletten entstand ein experimenteller Theaterbau mit 130 Sitzen und öffentlichem Vorplatz. Im selben Jahr wurde Assemble Studio in London von einer jungen Gruppe von Architekt*innen, Künstler*innen und Gestalter*innen gegründet, die vergleichbare partizipative Gestaltungsansätze wie Köbberling & Kaltwasser verfolgten und später als erste Architekt*innengruppe mit dem Turner Price ausgezeichnet wurden.

Auch Martin Kaltwasser ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden, Stipendien führten ihn u.a. nach Cambridge, Los Angeles, Warschau, Prag, Vancouver und Lagos. Seine Arbeiten wurden weltweit ausgestellt und realisiert. In Santa Monica bei Los Angeles, einer Region, die wie kaum eine andere von automobiler Kultur geprägt ist, nahmen Köbberling & Kaltwasser alte Autos auseinander und bauten aus den Einzelteilen Fahrräder. Diese Arbeit Cars into Bicycles (wie: Schwerter zu Pflugscharen) ist programmatisch für seinen künstlerisch-gestalterisch-aktivistischen Ansatz. Aus den Instrumenten einer überholten Gesellschaft entstanden Visionen für die Transportmittel einer neuen, postfossilen Welt. Dabei ging es ihm nicht darum, als Gestalter persönliche Ansichten umzusetzen, sondern um Prozesse der Teilhabe. Die Beteiligten erlernten dabei handwerkliche Fähigkeiten wie Metallbau und Schweißen, und gleichzeitig das kritische Bewusstsein, um die veralteten Logiken des Kapitalismus zu überwinden und Mittel zur Transformation in eine neue, sozial und ökologisch gerechtere Gesellschaft zu entwickeln.

Die Kritik an und Auseinandersetzung mit der Autogesellschaft blieben zentrale Anliegen im Leben und Werk von Martin Kaltwasser. Nicht nur, dass er konsequent auf fossile Transportmittel verzichtete, er organisierte auch vielfältige performative und gestalterische Aktionen, die die Vorherrschaft des Automobils im urbanen Raum kritisierten. Jahre vor den aktuellen Protesten der Letzten Generation entstanden neben dem Langzeitprojekt Cars into Bicycles, weitere Skulpturen, urbane Interventionen und Aktionen wie Bleibabybobbycar oder Platz da für mein SUV!? und Mein Auto! Meine Straße! Mein Kiez!, die sich mit einer gehörigen Portion Ironie gegen die autogerechte Stadt richteten. Die Installation Los Angeles Garden, ein 1:1 Nachbau eines kalifornischen Autoparkplatzes mitsamt Palmen, kann in den Gärten der Welt bewundert werden.

In den letzten Jahren trafen wir uns öfter in der Floating University, wo er meist mit schwerem Werkzeug in der Hand unermüdlich an der Floating Sports Hall arbeitete oder geduldig Kindern den Umgang mit Akkuschrauber, Hammer und Säge vermittelte und ihnen die Angst vor dem Umgang mit den Werkzeugen nahm. In der Floating habe ich ihn eine Weile bei der Arbeit beobachten können – und bewundert. Martin hat alles mit vollem Einsatz gemacht, und mit unglaublicher Liebe zur Arbeit, den Details und dem Material. Noch jedes Reststück hatte für ihn einen Wert. Er betrachtete die Materialien, bearbeitete sie und montierte sie zu einem Architekturensemble, das gleichzeitig von Spontanität und sorgfältiger Anordnung geprägt war. Es war funktionell und humorvoll zugleich.

2019 erhielt er die Professur für „Plastik“ am Institut für Kunst und materielle Kultur an der TU Dortmund. Nachdem er viele Jahre an nationalen und internationalen Universitäten als Lehrtätiger sein Wissen vermittelte, bedeutete ihm die Möglichkeit, in seiner Heimatregion langfristig ein Institut mitzugestalten und die Studierenden dort zu begleiten, besonders viel. Anfängliche Verwunderung über seine experimentellen Herangehensweisen wichen zunehmend der Anerkennung seines Lehransatzes, der wie folgt auf der Webseite des Instituts beschrieben ist und sowohl sein Konzept der Wissensvermittlung als auch seine eigenen Gestaltungsprinzipien wunderbar beschreibt:

„Plastik bedeutet: mit allen Materialien, mit allen Werkzeugen arbeiten, analog und digital, an allen Orten arbeiten, mit Grenzen und Grenzenlosigkeit arbeiten, experimentelles Forschen und Spielen mit Raum und Körper, Zweidimensionalität, Dreidimensionalität, Vierdimensionalität, etc. Komplexität und Widerspruch; Erforschen von Linie, Fläche, Raum, Maß, Mensch, Stadt; kritischer Umgang mit Phänomenologien des Alltags, mit den Lebensbedingungen des Menschen, mit Utopien und Wahrscheinlichkeiten; Macht und Ohnmacht der Ideen; Entscheidungen fällen und Kritikfähigkeit erlernen.“

Zuletzt sahen wir uns noch auf meiner Geburtstagsparty Anfang Oktober. Martin sprach lange mit meiner Mutter, die im Ruhrgebiet lebt. Mit seiner Partnerin Katja Szymczak sah er sehr glücklich aus, und jetzt diese Nachricht. Martin Kaltwasser starb am 29. Oktober 2022 in der Berliner Charité. So urplötzlich und unerwartet, so krass aus dem Leben gerissen. Er wird sehr fehlen.

Christian Hiller, Berlin im November 2022

 

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