Matthias Sauerbruch, Sauerbruch Hutton
Meine erste Begegnung mit Kristin muss ca. 1980 gewesen sein. Ich bin als Student um die Galerie in der Grolmanstraße herumgeschlichen wie ein Kind um die Götterspeise. Ich war von dem Ort unwiderstehlich angezogen. Eine erste Ausstellung, die ich noch detailliert in Erinnerung habe, zeigte die Arbeiten von Peter & Alison Smithson – ein Erlebnis, das mein Leben und meine Sicht auf die Architektur auf eine osmotische und langfristige Weise entscheidend geprägt hat. Kristin war damals eine Figur, die direkt aus dem Londoner Biba-Kaufhaus entsprungen zu sein schien: cool, elegant, lässig und avantgarde – und das blieb sie übrigens bis zu ihrem Ende.
In den 80er-Jahren lernte ich Aedes und – im Fahrwasser von Rem Koolhaas und Elia Zenghelis – auch Kristin etwas besser kennen. Unser wichtigster und vielleicht typischster „Kristin-Moment“ passierte aber 1991, nachdem das frisch gegründete Büro sauerbruch hutton den Wettbewerb für die GSW gewonnen hatte: Fast zeitgleich mit der Wettbewerbsentscheidung wurde ein neuer Senatsbaudirektor ernannt, der unseren Entwurf ablehnte. Als Kristin von seinen Versuchen Wind bekam, das Vorhaben zu unterminieren, lud sie Louisa Hutton und mich spontan ein, unser Projekt in der Galerie – da bereits unter den S-Bahnbögen am Savignyplatz – der Öffentlichkeit vorzustellen. Am Eröffnungsabend war zufällig Philip Johnson in der Stadt, und der ermahnte den Bauherrn vor unserem Modell: „Go and build this.“ Der Rest ist Geschichte.
Kristin war spontan, mutig (das Risiko war ihr egal), sie hatte Prinzipien und gab diese unmissverständlich zu verstehen. Sie war damals schon das Zentrum der kleinen Berliner – und einer recht umfangreichen internationalen – Architekturszene, die u. a. mit der IBA ein zunehmendes Interesse an der Stadt gewonnen hatte. Wir mussten dann noch ca. acht Jahre kämpfen und durchhalten, bis das GSW-Gebäude schließlich gebaut in der Kochstraße stand. In den zahlreichen schwachen Stunden – egal ob selbst- oder fremdverursacht – war Kristin uns immer Vorbild in ihrem Durchhaltevermögen und ihrer zielbewussten Energie, die oft genug die Grenzen ihrer eigenen Belastbarkeit (und manchmal auch die ihrer Umgebung) überstieg.
Eine Architekturgalerie ist kein erfolgreiches Geschäftsmodell. Zeitgenössische Architekturzeichnungen und -modelle haben keinen kommerziellen Wert. Die Galeristin ist hier also keine Verkäuferin von Objekten oder Bildern. Sie trägt Ideen zu Markte, deren Wert sich oft genug erst später erweist. Vielfach unbemerkt von ihren Zeitgenossen (aber zusammen mit Hans-Jürgen Commerell) fungierte sie in so vielen Fällen als eine findige Vorbotin neuer Tendenzen. Wer weiß schon, dass der heute weltberühmte Künstler Ai Weiwei seinen ersten Auftritt in Deutschland in der Galerie Aedes hatte? Junge Architekten aus der ganzen Welt feiern auch heute noch ihr Debüt bei Aedes, und mittlerweile hat sich der Wirkungskreis von der professionellen auch auf die akademische Sphäre erweitert. Das ANCB – The Aedes Metropolitan Laboratory – kollaboriert mit Hochschulen aus aller Welt, trägt Ideen zusammen und produziert Wissen. Wie das alles geht – ohne Förderung von Stadt, Land oder Bund – bleibt ein kleines Wunder, dem wir gerade mit der Gründung eines Förderkreises auf die Sprünge helfen wollen (Aedes Alumni & Friends, AAF e. V.).
Mit Kristin entstand nach unserer anfänglich rein architektonischen Beziehung auch bald eine sehr persönliche Freundschaft, die sich natürlich auch auf Hans-Jürgen erweiterte (der vor ca. 35 Jahren auf der Szene erschien). Sie war eine der großzügigsten und offensten Menschen, die ich kenne oder kannte. Gleichwohl hat sie interne Konflikte, Probleme, Zweifel nie nach außen getragen – obwohl sie natürlich existierten. Sie hatte immer neue Projekte im Kopf, bei deren Durchführung sie auf ihre eigene körperliche Schwäche keine Rücksicht nahm. Typischerweise starb sie mitten im doing, mit neuen Plänen und Ideen.
Sie war auch eine leidenschaftliche Gastgeberin. Wer machte im formlosen Berlin schon noch richtige Feste? Ein Fest im Bärensaal zum 20. Jubiläum der Galerie, eines in der Toskana zu ihrem Geburtstag, Feste im Garten am Pfefferberg, auf dem Dach in der Gneisenaustraße – wo immer: Es waren großartige, freudige und großzügige Anlässe mit Stil und interessanten Gästen. Umgekehrt war sie als Gast extrem bescheiden. Als sie das erste Mal bei uns in London übernachtete, musste sie sich mit Louisa auf dem Boden der obersten Etage einrichten, da unser Haus gerade umgebaut wurde. Als Teil dieses Umbaus war das Dach entfernt worden, sodass die beiden als Kompensation für das harte Bett wenigstens unter dem sommerlichen Sternenhimmel einschliefen.
Unsere letzte Zusammenarbeit war die Ausstellung Drawing in Space bei der Tchoban Foundation im Februar 2024. Kristin war im künstlerischen Beirat der Stiftung, und sie bestand darauf, diese Ausstellung zu veranstalten und zu kuratieren. Und so haben wir die Ausstellung gemacht – obwohl wir eigentlich wussten, dass nur wenige Monate später eine zweite Ausstellung in der Akademie der Künste, Berlin, folgen würde. Kristin widersprach man nicht – schon gar nicht in künstlerischen Dingen. Heute sind wir dankbar. Es wurde unerwartet eine ganz andere Schau als vermutet, und hätte sie uns nicht motiviert, wir hätten die Energie wahrscheinlich niemals aufgebracht.
Sie war eine Spürnase, ein Motor, eine Herausforderung, ein Ultimatum, ein Geschenk.
Wir alle werden sie sehr vermissen.