Inmitten der ideologischen Grabenkämpfe der Architekturdebatten trieben den 20-jährigen Jean-Louis Cohen im Paris der 1970er-Jahre zwei Fragen um: Zum einen, wie die Trennung zwischen Architektur und Wissenschaft überwunden und die französische Architekturausbildung nach der Auflösung der Architekturabteilung an der École de Beaux-Arts neu an die Universität angebunden werden kann. Zum anderen fragte der junge Intellektuelle, wie die gesellschaftliche Hebelkraft von Architektur in der Resonanz von Wissen, politischer Vision und Kreativität des Entwurfs entsteht; ein Thema, das auch 1974 in Grenoble auf dem von Cohen mitorganisierten Kolloquium Pour un Urbanisme… diskutiert wurde. Beide Fragen sind eng mit Cohens Biografie und der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verbunden. Seine Eltern waren Widerstandskämpfer*innen der französischen Résistance und überzeugte Kommunist*innen: Seine Mutter musste als promovierte Chemikerin in Auschwitz an experimentellen Forschungsprojekten mitarbeiten und war nach dem Krieg an der Pariser Universität Orsay tätig. Sein Vater überlebte den Weltkrieg ohne Festnahme, war nach dem Krieg Moskau-Korrespondent der kommunistischen Zeitschrift Humanité und von 1966 bis 1980 Chefredakteur der Zeitschrift La nouvelle critique. Kulturproduktion, Gesellschaftskritik und der Glaube an eine gesellschaftliche Emanzipation durch Wissenschaft waren in Cohens Elternhaus eng miteinander verbunden. Das Selbstverständnis dieses Milieus war von der Stärke der kommunistischen Partei in Frankreich und der Pariser Banlieue geprägt: „Ich wuchs also in diesem Kult von Wissenschaft und politischen Engagement auf, im starken Gefühl eher Teil einer oppositionellen Minderheit als einer verfolgten Minderheit zu sein“, erklärte er in einem 2013 in der Zeitschrift Urbanisme publizierten Interview: „Ich wurde in ein Milieu hineingeboren, dessen Familienreligion auf den zwei Stützen der Wissenschaft und der Revolution basierte.“1
Dieser Hintergrund ist hilfreich, um die Tiefe späterer Forschungsarbeiten des renommierten Architekturhistorikers einzuordnen. Dazu gehört, unter anderem, das 2011 am CCA eröffnete Ausstellungs- und Publikationsprojekt Architecture in Uniform, in dem Cohen die Funktion von Architektur und städtebaulichen Strategien im Zweiten Weltkrieg untersuchte. Cohens Fokus lag hier insbesondere auf kriegsrelevanten Industriebauten und dem Einfluss technischer Innovation auf den späteren Siegeszug der Moderne in der Nachkriegszeit. Die Stadt Paris, der französischer Wohnungsbau und die städtebauliche Entwicklung des Pariser Großraums sind ebenso maßgebend für Cohens Denken, das Architektur immer als historisch und geografisch situiert verstand. Die Bedeutung dieses politischen und geografischen Kontexts illustriert unter anderem das zusammen mit André Lortie entwickelte und 1992 erschienene Ausstellungs- und Publikationsprojekt Des fortifs au périf, Paris: les seuils de la ville. Thema waren die Anachronismen und Widersprüche der Stadtentwicklung der Pariser Außenbezirke und Stadtgrenzen, von der Thierschen Stadtmauer (1840–44) bis zur Pariser Stadtautobahn (1954–73). Cohen erlebte die Realität der urbanen Transformation dies- und jenseits der Stadtgrenzen aus erster Hand: Seine Eltern wohnten in einer von Cohen’s Mutter ab 1938 gemieteten Sozialwohnung im 13. Arrondissement; als Student zog er in den Perimeter der Stadtsanierungen der Place d’Italie, Schauplatz umfassender Gentrifizierungsprozesse unter anderem durch die Umsiedelung von Arbeiterhaushalten in die Banlieue. Architektur hatte innerhalb dieser Modernisierungsprozesse eine bestenfalls ambivalente Rolle inne; dennoch verstanden damals praktizierende Architekt*innen, die eng mit den kommunistischen Gemeinden der Banlieue zusammenarbeiteten – wie Jean Renaudie (1925–1981) oder der 1928 geborene Paul Chemetov –, das Projekt als Instrument für alternative Gesellschaftsentwürfe der Umverteilung. Jean-Louis Cohen war früh mit diesen Protagonist*innen der französischen Szene bekannt, die langjährigen Freundschaften mündeten unter anderem in der 2015 mit Vanessa Grossman eröffneten Ausstellung und Publikation Une architecture de l‘engagement: l’AUA 1960–1985.
In diesem Kontext beeindruckt umso mehr, dass sich der junge Historiker Cohen gerade nicht auf die Forderung der Linientreue von ästhetischen und politischen Dogmen einließ. Fließend in fünf europäischen Sprachen gewandt, reiste er Anfang der 1970er-Jahre zu Manfredo Tafuri nach Venedig, zu James Stirling an die Londoner AA und 1972 nach Moskau, um die Überlebenden der sowjetischen Avantgarde zu treffen; rezipierte die Theorien Aldo Rossis mit der gleichen Neugier wie die Stadtanalysen von Robert Krier. Nach seinem Abschluss an der École Spéciale d’Architecture im Jahr 1973 begann er in Paris an den bestehenden Institutionen für Architekturforschung zu arbeiten, die wechselnd dem Kultur- und Umweltministerium unterstellt waren, und erhielt ab 1979 eine Anstellung beim SRA, Secrétariat de la recherche architecturale. Im selben Jahr eröffnete im Centre George Pompidou die Ausstellung Paris-Moskau 1900–1930, bei der der knapp 30-Jährige die Architektursektion kuratierte. 1985 promovierte er beim Kunsthistoriker Hubert Damisch an der École des Hautes Études en Sciences Sociales über den französischen Architekten André Lurçat. Die Wahl von Lurçat, dessen Werk die Ambivalenz von sowjetischem Konstruktivismus und stalinistischen Beaux-Art-Stil kennzeichnet, ist für die Denkoffenheit Cohens charakteristisch. Zugleich machte er sich bei Damisch mit einer in strukturalistischer Philosophie und Psychoanalyse verankerten Kunstgeschichte vertraut.
Die Kombination von Ausstellung und Publikation als strategisch gewählte Instrumente der Wissensproduktion und -vermittlung behielt Cohen bis zuletzt bei: Einerseits interessierte ihn der Anschluss an eine breitere Öffentlichkeit, andererseits verstand er die Ausstellung als Medium, das in der räumlichen Erfahrbarkeit von Exponaten die Kluft zwischen Forschung und Architekturschaffen überwindet.
Sein enzyklopädisches Wissen profilierte ihn ab den 1990er-Jahren zu einem international bekannten Intellektuellen, der ab 1994 in New York am Institute for Fine Arts lehrte, und ab 1996 im von Pierre Merlin gegründeten Institut d’Urbanisme. Sein Einfluss auf die Institutionalisierung der französischen Architekturforschung war zentral. Erstens unterstützte er maßgeblich die Etablierung von Doktoratsprogrammen für Architekt*innen und die Einrichtung von Forschungslaboratorien in Architekturschulen, darunter die 41 von ihm selbst betreuten Dissertationen (dazu kommen 25 weitere am Institute für Fine Arts in New York). Zweitens war er zwischen 1997 und 2003 mit der Gründung des 2007 eröffneten Architekturmuseums Cité de l’architecture et du patrimoine beauftragt und legte hier den Grundstein für die internationale und städtebauliche Ausrichtung dieser wichtigen Institution.
„Mein Freund, es ist immer ein Vergnügen, dir zuzuhören“, begrüßte ihn der zwei Jahre ältere Stadtplaner und Historiker Bruno Fortier nach einem 2015 gehaltenen Vortrag am Collège de France über den Einfluss des Amerikanismus in der prästalinistischen Sowjetunion. Die Brillanz seines Wissens lag nicht zuletzt in seiner Fähigkeit, nahezu jeden europäischen Kontext durch sein Anderswo zu lesen: In seiner umfassenden Publikationsliste treten immer wieder transnationale Bezüge hervor, etwa zwischen Frankreich und seinen Kolonien, Frankreich und Deutschland, oder den USA und der Sowjetunion. Cohen verkörperte damit eine historisch informierte Architekturgeschichte, die dem Drang der Entmythologisierung folgte, deren Tiefe auf präziser Archivforschung basierte und deren politisches Engagement von pluralistischer Offenheit geprägt war. Pritzker Preisträger wie Paulo Mendes da Rocha oder Frank Gehry vertrauten ihm ihr Werk an, weil er ihrem Schaffen einen angemessenen Platz und Rahmen verleihen konnte. Mit ihm geht auch ein Jahrhundertwissen der Architekturgeschichte verloren. Cohen starb am 7. August 2023 in Chassiers in der Ardèche.