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MAK Ausstellungsansicht /imagine: Eine Reise in die Neue Virtualität, 2023 | Leah Wulfman: My Mid Journey Trash Pile, 2022, Installation, Midjourney-Bilder, Ölgemälde, MAK Ausstellungshalle | © kunst-dokumentation.com/MAK
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/imagine: – Eine Reise in die Neue Virtualität

MAK – Museum für angewandte Kunst, Wien10.5. bis 10.9.2023
Eine Ausstellungsrezension von Nora Dünser

 

Landschaften ziehen am Fenster vorbei. Der Zug rattert monoton dahin, das Setting ändert sich von Speisewagon auf Schlafabteil zu Badezimmer. Quantum Express (2022) von Alexis Christodoulou ist eine 15-minütige Fahrt ins Nirgendwo, am Computer geschaffen führt sie im Loop an Feldern, Wiesen, Seen, Bergen und Wäldern entlang. Die Natur als Sehnsuchtsort, betrachtet durchs luxuriös ausgestattete Coupé hindurch.

Natur ist interessanterweise ein Thema im digitalen Raum, folgt man der von Marlies Wirth und Bika Rebek kuratierten Ausstellung /imagine: im Wiener Museum für angewandte Kunst, die die Besucher*innen mit auf Eine Reise in die Neue Virtualität nimmt. Vorbei an rund 25 Arbeiten aus den letzten zehn Jahren, trifft man thematisch in vier Kapitel unterteilt auf alte Bekannte wie Morehshin Allahyari, Simone C. Niquille aka /technoflesh und Liam Young und auf Entdeckungen aus anderen Sphären wie etwa der Game-Design-Szene.

Alexis Christodoulou: Quantum Express, 2022 | Die einzelnen Abschnitte der virtuellen Bahnfahrt sind mit Energy, Distance, Space, Time und Probability betitelt und wurden auch als NFTs-Kollektion produziert. | © Alexis Christodoulou

Das gerenderte Bild Neo-Chemosphere (2021) von ZYVA Studio und Charlotte Taylor ist ein an John Lautners ikonisches Wohnhaus angelehnter Modernismustraum, der sich – im Gegensatz zum realen Gebäude, das sich in den Hollywood Hills in Los Angeles befindet – auf rosanen Felsenklippen über dem Meer erhebt. In Andrés Reisingers Animation Hortensia (2018) schweben Blütenblätter langsam durch das Bild, gestreichelt vom Sonnenschein, der eine Idylle aus zarter Vegetation und angedeuteter Rundbogenarchitektur mit Wärme füllt. Hauptattraktion des einminütigen Videos ist ein Armsessel aus Tausenden jener tänzelnden Hortensienblüten, in deren Mitte sich der oder die Sitzende wohligweich umarmt zu wissen fühlt. Studio Precht imaginiert mit Bert (2018) einen modularen Holzbau mit offener Nutzung, der sich in Form und Material an den ihn umgebenden dichten Nadelbaumwald anpasst. Die Abgeschiedenheit des urigen Forsts, das Sanfte des Blumenregens, die Weite des unzähmbaren Meers – es wundert nicht, dass diese drei Arbeiten zunächst auf Instagram viral gingen, wo sie der Projektion endlos scrollender User*innen eine Fläche gaben. Es ist eine pudrige Zuckerwattenwelt, die hier angeboten wird, um der krisengebeutelten Realität zu entfleuchen.

Zyva Studio × Charlotte Taylor: New-Chemosphere, 2021 | © Zyva Studio × Charlotte Taylor
Andrés Reisinger: Hortensia, 2018 | Der digitale Sessel wurde mithilfe eines niederländischen Möbelherstellers zum Leben erweckt und ist heute als physisches Objekt in verschiedenen Farben erhältlich. Preis: ca. 6.500 Euro. | © Andrés REISINGER
Studio Precht: Bert, 2018 | Das modulare Baumhaus blieb nicht nur Rendering, sondern wurde für einen Hotelbetrieb in der Steiermark gebaut. | © Imanuel Thallinger

Alles andere als Eskapismus ist das von Jose Sanchez und seinem Plethora Project entwickelte Community-Simulationsspiel Common’hood (2022), das die Folgen eines Finanzcrashs zum Ausgangspunkt der Erzählung macht. Man nimmt die Rolle einer jungen, obdachlos gewordenen Frau ein, die gemeinsam mit einer Gruppe von Menschen mit demselben Schicksal einen neuen Lebensraum für sich in der Stadt aufbaut. Es geht dabei um das Entwickeln von Strategien für ein solidarisches Miteinander, DYI, ökologisches und architektonisches Denken – all das verbunden mit Sanchez’ Hoffnung, von den Aushandlungsprozessen in der virtuellen (Gamer-)Gemeinschaft auch etwas in die reale Welt hinüberzunehmen. Lee Pivnik lässt in Symbiotic House (seit 2022) die KI-Software Midjourney Bilder von fantastischen Häusern errechnen, die auf Textbeschreibungen von Einwohner*innen Miamis beruhen. Sie fragte Pivnik nach gebauten Visionen für ein zukünftiges Leben in der vom steigenden Meeresspiegel und sich häufenden Wirbelstürmen bedrohten Stadt, deren Bewohnbarkeit Expert*innen noch in diesem Jahrhundert für so gut wie unmöglich erklären. Leah Wulfman lässt die KI in My Mid Journey Trash Pile (2022) Bilder von Gebäuden aus Abfällen wie Müllsäcke, Plastikflaschen und Altmetall generieren, mit Getreidesilos, Papiermühlen und Wassertürmen als Vorbilder, kombiniert mit Flüssen, Wolken und Wasserfällen. Einige Resultate, die so absurd aussehen wie ihre Anleitung klingt, ließ Wulfman dann in einer chinesischen Ölmalereifabrik von einem im Impressionismus geschulten Meister nachmalen. Es wird meta: Und Metaverse ist, um noch eine letzte holprige Brücke zu schlagen, der Raum, den Space Popular zu einem besseren Ort machen will. Das Kollektiv wünscht sich eine virtuelle Welt, in der Grenzen zwischen unterschiedlichen digitalen Plattformen aufgelöst sind, um sich und seine Avatare, Inhalte und Assets dort frei zu bewegen. In der VR-Installation The Portal Galleries (2022) zeigen sie ihre Recherche zu Übergängen zwischen verschiedenen fiktiven Welten aus Büchern, Filmen, Comics und Spielen der letzten 250 Jahre. Es entstand ein Atlas aus rund zwanzig Portalarchetypen, der Grundlagenarbeit für die anstehende Weiterentwicklung des schwellenlosen WWWs sein soll.

Jose Sanchez, Screenshot von Common’hood, Videospiel von Plethora Project unter der Leitung von Jose Sanchez, 2022 | © Plethora Project
Lee Pivnik: Symbiotic House, seit 2022 Midjourney-Bilder, Magazine, Video 9:00 min | © kunst-dokumentation.com/MAK
Leah Wulfman: My Mid Journey Trash Pile, 2022 Installation, Midjourney-Bilder, Ölgemälde | © kunst-dokumentation.com/MAK
Space Popular: The Portal Galleries, 2022 Installation, Virtual-Reality-Experience | Der Atlas aus rund 1.000 Portalen, die fiktive Welten miteinander verbinden, reicht von Alice im Wunderlands Kanichenbau, über Harry Potters Gleis 9 ¾ bis zum Auto von Marty McFly und Doc Brown in Zurück in die Zukunft. | © kunst-dokumentation.com/MAK

/imagine:, Titel der Ausstellung und Eingabebefehl für Midjourney die Prozessoren anlaufen zu lassen, präsentiert ein Potpourri aus superglossy, superkritischen und superdystopischen Arbeiten, jedenfalls an der Oberfläche. Doch was wird hier eigentlich ausgeblendet? Wo wir wieder zum Textanfang und Alexis Christodoulous Bahnfahrt zurückkommen: Apathie setzt ein, schaut man zu lange auf den Screen, dessen Bilder den Wettkampf mit der realen Welt verlieren – zumindest in den immer müder werdenden Augen der Autorin. Sie fantasiert sich ein Portal herbei, das sie weg von den (pardon!) Spielereien ins wahre Leben führt. Und draußen zwitschern die Vögel.

Simone C. Niquille: HOMESCHOOL, 2019 HD-Video, 3D-Animation, 4 Channel Surround Sound, 12:45 min MAK Ausstellungshalle | Damit smarte Gegenstände wie Staubsaugroboter ihre Umgebung erkennen, werden sie mit Informationen aus riesigen Trainings-Datenbanken gefüttert. Was dabei schief gehen kann, führt Simone C. Niquille in dieser Arbeit humorvoll vor. | © kunst-dokumentation.com/MAK
Alexis Christodoulou: Quantum Express, 2022 Animation, NFT, 15:11 min | Das Display der Ausstellung entwarf das in Berlin und Wien ansässige Architekturbüro Some Place Studio, das die Ko-Kuratorin Bika Rebek mitbegründete. | © kunst-dokumentation.com/MAK
Das von Some Place Studio entworfene Ausstellungsdisplay zitiert ästhetische Elemente aus der digitalen Welt und Renderingprozesse. | © kunst-dokumentation.com/MAK