So berühmt die HfG Ulm als bedeutendste Designschule der (west)deutschen Nachkriegsära ist, in vielerlei Hinsicht ist sie immer noch eine bekannte Unbekannte. Zwar kommt keine Publikation zur Designgeschichte in Deutschland ohne einen Verweis auf die Geschichte der Hochschule aus und auch das Werk namhafter Protagonisten wie Max Bill und Otl Aicher ist heute weitgehend erschlossen. Auch den Arbeiten weniger bekannter Lehrer wie Walter Zeischegg oder Hans Gugelot hat man sich zugewandt.
Und dennoch: Betrachtet man die internationale Aufmerksamkeit, die im Vergleich dem Bauhaus allgemein und noch einmal gesteigert zum 100. Gründungsjubiläum 2019 über ein ganzes Jahr hinweg zuteilwurde, dann ist für die HfG Ulm eine vergleichbare Wertschätzung und Anerkennung undenkbar. Für Spitz war die Schule dennoch, wie er an anderer Stelle bemerkt, „vermutlich die weltweit wichtigste Designhochschule des 20. Jahrhunderts.“ Sie habe „wahrscheinlich einen weiteren, tieferen und dauerhafteren Einfluss als jede andere Ausbildungsstätte auf das moderne Design ausgeübt, auch als das Dessauer Bauhaus.“ Zumindest „die welt neu denken“, der Slogan, den der Bund und der Bauhaus-Verbund 2019 zur Grundlage von mehr als 700 Veranstaltungen und Projekten machten, trifft im selben Maße für die HfG Ulm zu: Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, das Leben vor dem Hintergrund von Faschismus und Krieg neu zu gestalten. Und wie beim Bauhaus waren daran viele Sparten der angewandten Künste – von der Architektur über die visuelle Kommunikation und das Industriedesign, die Neuen Medien und nicht zuletzt der Film – beteiligt.
Die Ulmer stellten sich hier ganz bewusst in die Tradition des Bauhauses. Wie ihr historisches Vorbild, das sich 1919 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und zeitgleich mit der Ausrufung der Weimarer Republik, der ersten Demokratie auf deutschem Boden, gründete, wollten auch die Initiator*innen der HfG Ulm nach der Herrschaft des Nationalsozialismus nicht einfach eine Designschule gründen, sondern dazu beitragen, mit den Mitteln der Gestaltung eine demokratische und friedliche Gesellschaft aufzubauen. Der Schweizer Architekt und erste Rektor der Hochschule Max Bill, der auch den neuen Hochschulkomplex (1953–1955) entwarf, war 1927/28 Schüler am Dessauer Bauhaus gewesen, in der Zeit als Hannes Meyer Walter Gropius als Leiter des Bauhauses ablöste. 1955 unterrichtete auch der ehemalige Bauhausmeister Johannes Itten für eine Woche in Ulm. Er hatte in der Nachkriegszeit einen immensen Einfluss auf die Lehre in deutschen Grundschulen, insbesondere in der Kunstpädagogik. Der ehemalige Werkstattleiter für Fotografie am Dessauer Bauhaus Walter Peterhans, der 1938 in die USA emigriert war, leitete 1953 als Gastdozent an der HfG Ulm einen Grundkurs. Max Bill holte im selben Jahr die in Deutschland verbliebene ehemalige Bauhäuslerin Helene Nonné-Schmidt an die Schule. Am 1. und 2. Oktober 1955 wurde das neue Schulgebäude feierlich eingeweiht, die Festrede hielt der ebenfalls aus den USA angereiste Walter Gropius. Das Bauhaus stand symbolisch für die gute Vergangenheit, die vom Nationalsozialismus nicht kontaminierte Moderne.
Gerade aber diese symbolische Rolle des Bauhauses in den westdeutschen Nachkriegsjahren ist in den letzten Jahren auch unter anderen Gesichtspunkten diskutiert worden. Das Bauhaus als kultureller Repräsentant der Weimarer Republik und seiner amerikanischen Emigrationsgeschichte bot im angespannten politischen Klima des Kalten Krieges das notwendige kulturelle Kapital, um die demokratische Werte des Westens zu verteidigen. So diente der positive Rückgriff auf das Bauhaus und seiner Erfolgsgeschichte auch als ein probates Mittel der Erinnerungspolitik zur Inszenierung eines demokratischen Neuanfangs in der Bundesrepublik Deutschland.
Von solchen Einordnungen ist das vorliegende Buch frei, man könnte fast sagen, es ist ein ruhiger, ein „beschaulicher“ Band. Die Kargheit der Räume, die fast überwiegend in Schwarz-Weiß gehaltenen Fotografien, die Konzentration auf die Personen und ihr Experimentieren mit einfachen Materialien – sie geben der Bilderreihe die Anmutung des Eigentlichen: der „Interaction“ zwischen Lehrendem und Lernenden.