Anu Vahtra ist in einer Zeit aufgewachsen, in der die ehemaligen Sowjetrepubliken gewaltige Umwälzungen erlebten. Manches davon mag an die Umstände erinnern, unter denen Matta-Clark in New York arbeitete. In beiden Fällen bildet die Ausweitung marktwirtschaftlicher Organisationsprinzipien auf praktisch alle Lebensbereiche den Ausgangspunkt der Entwicklung. Womöglich bezieht sich Vahtra auch deshalb seit über zehn Jahren immer wieder explizit auf Matta-Clark. Die Doppel-Ausstellung in Tallinn bietet ihr die Möglichkeit, in einen direkten Dialog mit seinen Arbeiten zu treten. Neben der Filmdokumentation ihrer New Yorker Performance zeigt Vahtra eine Intervention, die den Ausstellungsraum selbst zum Gegenstand macht. Sie zerschneidet die temporären Wände einer vorangegangenen Ausstellung und legt damit die Struktur unter der Oberfläche des White Cube offen. Auf der Rückseite der wiederverwendeten Gipskartonplatten werden Kritzeleien sichtbar, die auf frappierende Weise Matta-Clarks Graffiti-Fotografien zu wiederholen scheinen. Vahtras Schnitte geben von einem bestimmten Punkt aus betrachtet den Blick auf die Stützen frei, die sonst in den Ausstellungswänden verborgen sind. Eine großformatige Fotografie dieser Situation unterstreicht die abstrakte geometrische Qualität, die Vahtra durch ihre Intervention dem Raum verleiht.
Matta-Clarks architektonische Interventionen existieren heute fast nur noch in Form von Texten, Skizzen, Drucken, Fotografien und Filmen. Ausgewählte dieser Dokumente sind in Tallinn zu sehen. Wenn Anu Vahtra Matta-Clarks räumliche Technik des Schnitts anwendet, reproduziert sie etwas von der starken physischen Präsenz seiner Cut-Outs. Zugleich werden aber auch die ästhetischen Unterschiede der Künstler*innen deutlich. Matta-Clark bewegte sich ständig an den Grenzen zwischen Architektur, Kunst, Fotografie, Film und Aktivismus und betrieb deren Auflösung. Auch Vahtra arbeitet in unterschiedlichen Medien, ohne damit allerdings Matta-Clarks formsprengendem Anti-Institutionalismus zu folgen. Für ihre streng geometrischen Interventionen nutzt sie Räume von Galerien und Museen, die sie auf größere Kontexte bezieht. In Vahtras Arbeiten spiegeln sich gesellschaftliche Brüche wider anstatt wie bei Matta-Clark selbst zum Medium zu werden. Deutlich wird das in ihrer Installation Work in progress: Somewhere between the supports and the collapse im Vorhof des Kumu, eines zeitgenössischen Neubaus, Mitte der 1990er-Jahre entworfen und 2006 fertiggestellt, der auch die umfangreichste Sammlung estnischer Kunst seit dem 18. Jahrhundert beherbergt: Auf subtile Weise weist sie auf die städtische Situation des Museums hin an der Grenze zwischen dem wohlhabenden Stadtteil Kadriorg mit seinen Parkanlagen und jahrhunderteralter Baugeschichte und dem Plattenbauviertel Lasnamäe, der größte und bevölkerungsreichste Stadtteil Tallinns, das hauptsächlich von der großen russischen Minderheit bewohnt wird, die heute in Estland ökonomisch und gesellschaftlich benachteiligt ist. Sowohl Matta-Clarks als auch Vahtras Arbeiten beziehen ihre Komplexität aus der räumlichen, gesellschaftlichen, historischen, ökonomischen und ästhetischen Dimension der Städte.
Vahtras Arbeit im Vorhof des Kumu bildet das Gegenüber zu ihrer New Yorker Performance Open House Closing. Die Risse in Manhattans räumlichem Gefüge verweisen auf tiefe gesellschaftliche Konflikte im disfunktionalen Neoliberalismus, die zunehmend auch in Estland zu Tage treten. Die entschlossen westliche Positionierung des Landes und sein Aufstieg zum Vorbild in Sachen Digitalisierung und Liberalität wurden zuletzt in Frage gestellt. Estland droht durch die Regierungsbeteiligung von Rechtspopulisten und Rechtsextremen zum jüngsten Fall in einer ganzen Reihe von EU-Mitgliedsstaaten zu werden, die einen antiliberalen Rollback vollziehen. Künstler*innen und Kultureinrichtungen werden sich entschieden für die Verteidigung der offenen Gesellschaft einsetzen müssen. Vahtras Schritt aus den Ausstellungsräumen hinaus auf den Vorhof des Kumu ist ein leiser, aber kämpferischer Aufruf dazu. Die erzwungenen Abgänge mehrerer profilierter Journalist*innen zeigen, wie entschieden die reaktionären Kräfte zu Werke gehen. Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohner*innen hat noch immer eine große Dichte liberaler Intellektueller. Die Chancen dieser Intelligenzija stehen gut, die gesellschaftliche Hegemonie zu bewahren. Es wird aber nötig sein, Bündnisse zu schließen und Solidarität zu üben – auch hierfür könnten Matta-Clark und SoHos Kunstszene der 1970er-Jahre vorbildhaft sein.
Katalog:
Short Time Eternity
Herausgeber: Anu Allas, Anu Vahtra, Indrek Sirkel
Lugemik & Art Museum of Estonia, 2019
ISBN 978-9949-7234-6-1
248 Seiten, 15 Euro