Es wird laut in der Stadt. Weltweite Protestbewegungen wie Fridays for Future, Black Lives Matter und NiUnaMenos stehen für die derzeitigen Kämpfe gegen die Klimakatastrophe, Rassismus, Sexismus und die Gewalt gegen Frauen. Dabei setzen sie vordergründig an unterschiedlichen Punkten an, verfolgen im Kern jedoch ein gemeinsames Ziel, nämlich die „Rettung von Leben“1 sowie die öffentliche Aushandlung um ein anderes Leben, das nicht länger von den ausbeuterischen Verwertungs- und Eigentumslogiken kapitalistischer (Re)Produktionsweisen bestimmt wird, sondern solidarische Formen des Zusammenlebens stärkt und eine gesellschaftliche Teilhabe der Vielen ermöglicht. Dies spiegelt sich auch auf der Ebene des Wohnens und des Bewohnens von Stadt in urbanen sozialen Bewegungen wie zum Beispiel „Recht auf Stadt“, „Occupy“, „Housing for All“ und im Berliner Kontext ganz aktuell auch mit der Bürgerinitiative „Deutsche Wohnen & Co. enteignen!“ wider. Denn die Frage, „wie sich solidarisch, ohne Ausbeutung und Ausgrenzung, miteinander leben lässt“2, hat einen wichtigen Ansatzpunkt im Wohnen und der Verteilung von (öffentlichem) Raum.
Hier setzt auch Gabu Heindls Buch Stadtkonflikte – Radikale Demokratie in Architektur und Stadtplanung an. Zu den „Stadtkonflikten“, den Brennpunkten urbaner Kämpfe, zählt sie ganz wesentlich die „Privatisierung von öffentlichem Raum, städtischem Boden und Allgemeingütern, die Kapitalisierung von Wohnraum bis hin zu ganzen Stadtteilen“3, die auf politischer Ebene in den letzten Jahrzehnten durch eine ganze Reihe neoliberaler Regierungstechniken und Steuerungsinstrumente im Sinne der „unternehmerischen Stadt“ vorangetrieben wurden. So haben sich unter dem Diktat ökonomischer Sachzwänge („There Is No Alternative“) seit den 1990er-Jahren Public-Private-Partnerships (PPP) zunehmend als eine spezifische Form der Governance durchgesetzt, in der öffentliche, dem Gemeinwohl verpflichtete Bau- und Infrastrukturaufgaben in enger Verzahnung mit Unternehmen der Privatwirtschaft durchgeführt werden. Dies bewirkt eine enorme Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse und Gestaltungsmacht zugunsten des deregulierten „freien Marktes“, denn mit dem Wachstum der Städte und vor dem Hintergrund der „relativen Profitabilität“ und „Krisensicherheit“ von Überschusskapital in „Betongold“, werden „PPP-Projekte […] verstärkt von privaten Investitions-Scouts selbst konzipiert. Gut erschlossener Stadtraum ist zum Investitionsstandort für jedes Kapital geworden, das durch fehlende Besteuerung von Krise zu Krise wächst und sich in Form jenes Eigentums an urbanem Raum manifestiert, das nicht für dessen Nutzung gedacht ist, sondern als gebaute Form gestapelter Aktien und Sparbücher. Kurz gesagt, findet dabei eine Umverteilung von öffentlich zu privat und von unten nach oben statt.“4 Durch die weitreichenden Privatisierungsprozesse – durch Ausverkauf, Kommodifizierung und systematische Verknappung von Gemeingütern und städtischem (Wohn)Raum – wird Handlungsspielräumen demokratischer Gestaltung, Einflussnahme und Kontrolle (das heißt auch ihrer Bestimmung durch institutionelle Repräsentation und zivilgesellschaftliche Teilhabe) buchstäblich „der Boden entzogen“. Dabei erhöhen zunehmend nationalautoritäre, rechtspopulistische Regierungen und antipluralistische Kräfte in ganz Europa weiter den Druck auf den öffentlichen Raum – und zwar nicht gegen, sondern durchaus in Übereinstimmung und Kooperation mit neoliberalen Zugriffen: „Zu der Ausschluss-produzierenden Kapitalisierung der Städte kommen verstärkt rassistisch motivierte Sicherheitsdiskurse und -techniken hinzu – sowie strukturelle Verunsicherungen in den Lebensbedingungen vieler, die aus der Austeritätspolitik resultieren. Zu sprechen ist hier auch von der Erderhitzung und ihren sozial ungleichen Auswirkungen: also von der ‚Klimakrise‘ und zwar als einem nicht zuletzt verteilungspolitisch gerahmten Problem (wer verbraucht Energie, wer leidet unter den Folgen?), das somit ebenfalls Teil der Demokratiekrise ist.“5
Soweit die problemanalytische Grundlegung der heutigen „Stadtkonflikte“, die Gabu Heindl in ihrer Einleitung des Buchs voranstellt, um dann vor diesem Hintergrund und in Bezugnahme auf die gängige PPP-Formel ihre Struktur der anderen PPP, nämlich die von „Politik, Planung und Popular Agency“, einzuführen. Diese gründet auf einem „radikaldemokratischen“ Politikverständnis, das auf eine Kritik und Vertiefung gegebener demokratischer Formen und Prozesse politischen Handelns zielt, auf eine „Demokratisierung von Demokratie in Zeiten ihrer Krise“. Hier macht Gabu Heindl unter anderem Chantal Mouffes politiktheoretisches Hegemonie-Konzept fruchtbar, bei dem es nicht um Rückzug, sondern um ein Entwickeln neuer hegemoniepolitischer Diskurse und Institutionen aus dem gegebenen Macht- und Institutionengefüge heraus geht: Denn „Hegemonie-Politik als Herstellung einer neuen Vorherrschaft gegen eine existierende (etwa neoliberale) braucht eine ‚strategy of engagement within‘ [Chantal Mouffe]“6. Diese darf jedoch nicht als reine Politik der Institutionen verstanden werden, sondern – und dafür steht ganz zentral das dritte P von „Popular Agency“ – einschließlich der Anerkennung von Kämpfen und Konflikten rund um Selbstbestimmung, Repräsentation und Stellvertretung.
Doch wie kann eine solche „strategy of engagement [and change from] within“ im Kontext einer dezidiert kapitalismuskritisch positionierten Stadtplanungspolitik aussehen? Gabu Heindls Analyse und Handlungsansätze sind hier deshalb so überzeugend und spannend zu lesen, weil sie als „praktizierende, lehrende, publizierende und aktivistisch eingebundene Architektin, aber auch als Vermittlerin demokratiepolitischer Einsätze von Planung“7 selbst in allen Bereichen der drei anderen Ps situiert ist und sie „praxistheoretisch“ produktiv miteinander zu verschränken weiß.
So nimmt sie im ersten Teil „Politik“ eine inhaltliche Fokussierung auf die kommunale Wohn(bau)politik des historischen Roten Wien (1919–1934) vor, das seit einiger Zeit wieder verstärkt als Vorzeigemodell („The Vienna Model“8) einer egalitären sozialdemokratischen Planung in Architektur und Städtebaudiskursen weit über den deutschsprachigen Raum hinaus diskutiert wird, und fragt danach, was an dem großen „hegemoniepolitischen Projekt“ der 1920er-Jahre für heute aktualisierbar wäre. Dabei geht es Gabu Heindl explizit um ein kritisches (Be)Erben, das heißt auch um „Kritik als eine Art des Erbens“ sowie ein „Beerben, das zugleich ein Umgestalten, ein Umbauen“ (Ernst Bloch) meint. In Auseinandersetzung mit architektur- und politiktheoretischen Einwänden vor allem aus marxistischer wie poststrukturalistischer Sicht zeigt sie auf, wie die progressiven Ansätze in Steuerpolitik, Mietenschutz und kommunalem Wohnungsbau (64.000 neue Wohnungen zwischen 1923–1933) des Roten Wien heute – in Hinblick auf mögliche Alternativen für die Zukunft – weiterentwickelt werden können. Dies betrifft eine Problematisierung der rigiden kleinbürgerlichen Konzeption der Wohnungstypologie in den Gemeindebauten, die nur wenig Raum für Aneignung sowie für andere Wohn- und Lebensformen abseits der Kleinfamilien-Norm boten, und reicht hin zu Forderungen neuer bodenpolitischer Instrumente sowie einer grundlegenden Revision besonders jener Züge der Wiener Wohnungspolitik, die in biopolitischen Praktiken der Wohlfahrtspflege und „Rassenhygiene“ sowie einem Punktesystem der Wohnungsvergabe zur Privilegierung von „einheimischen“ Wiener*innen gegenüber („fremdländischen“) Zuwanderer*innen ihren Ausdruck fanden und zum Teil bis heute in abgeminderter Form gültig sind. Der Fokus auf die stark paternalistisch geprägte Top-down-Politik des Roten Wien öffnet sich gegen Ende des ersten Hauptkapitels dann hin zu mehr basisdemokratischen Politikformen und Praktiken des Regierens, wie sie sich derzeit durch die neuen munizipalistischen Bewegungen und Städtenetzwerke von „Fearless Cities“, „Sanctuary Cities“ und „Rebel Cities“ oder am Beispiel „Barcelona en Comú“9 weltweit formieren bzw. – hegemoniepolitisch – instituieren. Von einer lokalen Stärkung der Städte als „Orte der Gegenmacht“ (u. a. gegenüber nationalstaatlicher Souveränität) ausgehend, zeigen diese zugleich in der Öffnung für globale Entwicklungen vor allem im Kontext von Klimawandel und Migration neue Wege einer transnationalen Solidarität auf, aber auch deren Beschränkungen, von denen aus weitergedacht werden sollte.
Gerade vor dem Hintergrund der breiteren Beteiligung und des Empowerments von Stadtbewohner*innen in diesen Zusammenhängen geht es Gabu Heindl im nachfolgenden Kapitel „Planung“ um eine nähere Bestimmung dessen, wie gemeinwohlorientierte und „radikaldemokratische“ Planungspraxen in Zeiten einer tiefgreifenden Neoliberalisierung des Planungswesens überhaupt aussehen können. Dabei nimmt sie Abstand von einer naheliegenden, zu reflexhaften Anrufung von per se mehr partizipativen Planungsprozessen, da diese heute allzu oft „durch ihre Rolle als Zuarbeiter*innen für neoliberale PPP-Projekte kompromittiert sind“10 (Particitainment), und entwickelt demgegenüber ihr Konzept der „strittigen Setzung“; einer parteiischen Planung, die Verantwortung übernimmt: „als demokratische Vertretung von Gemeinwohl“ sowie – gerade wieder im Hinblick auf zukünftige Klima- und Migrationspolitik – „als implizierte Mit-Übernahme des Mandats für Spiel- und Handlungsräume jener Menschen, die zeitlich wie räumlich noch nicht da sind“11.
Konkretere Beispiele solcher „strittigen Setzungen“ im Planungskontext sind dann Teil des dritten und abschließenden Kapitels des Buchs zu „Popular Agency“. Darin geht es zentral um die Frage, wie Empowerment-Potentiale für radikaldemokratisches Handeln, „in der Planung ebenso wie mittels dessen, was durch Planung entsteht“12, gewissermaßen „eingerichtet“ und freigesetzt werden können. Hier macht Gabu Heindl einen Infrastrukturbegriff stark, der auf die Bildung, Herstellung und Ausweitung von Öffentlichkeit und kollektiver Infrastruktur sowie auch einer Verteidigung öffentlicher, nutzungsoffener Räume im Stadtviertel als Grundvoraussetzung für Popular Agency, für gemeinsames (politisches) Handeln, zielt. Denn der Mobilisierungsdruck ist hoch angesichts der Konfliktlagen rund um die kapitalistische Aneignung und Monopolisierung von Grund und Boden und den damit verbundenen, sich verschärfenden Ungleichverhältnissen in Fragen des Zugangs zu Öffentlichkeit, Urbanität und bezahlbarem Wohn- und Arbeitsraum, zu Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, zur Teilhabe am Gemeinwesen. Dabei betont sie, dass dieses Gemeinwesen, das „Populare“, hier nur als etwas radikal Vielfältiges verstanden werden kann, zu dessen Ermächtigung Klassenfragen, Rassismuskritik, feministische und queere Projekte nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen: „Es geht vielmehr um die Konzeption und praktische Einrichtung einer neuen, intersektionalen Hegemonie, in der die ‚soziale Frage‘ verbunden ist mit Migrationspolitik und postkolonialen Agenden sowie ökologischen Maßnahmen im Rahmen einer globalisierten Ökonomie. [Ihr] Ansatz, das Intersektionale starkzumachen, zielt in Richtung Demokratisierung bzw. deren Radikalisierung, in Richtung erweiterter Handlungsmacht, etwa beim Wohnen, und der Beteiligung von Frauen, Migrant*innen, Minderheiten an politischer Macht und an Geltung im öffentlichen Raum.“13
Die Relevanz und Dringlichkeit dieser Forderung gilt es heute angesichts zunehmender populistischer Spaltungsversuche und Vereinnahmungen von rechts besonders zu betonen: Es geht um viele Bündnisse, um #unteilbare Allianzen, „im Anvisieren neuer Hegemonien, neuer, unerwarteter, politischer Verbindungen“14. Gabu Heindl gibt uns mit ihrer umfassenden Analyse heutiger „Stadtkonflikte“ ein wichtiges Instrument der Kritik an die Hand und skizziert zugleich progressive praktische Handlungsansätze und Spielräume gegenhegemonialer Planung und Architektur, die einen wichtigen Orientierungsrahmen bieten können bei der Entwicklung einer sozialen und ökologisch gerechten Stadt – für die Vielen, für eine radikaldemokratische, offen zu haltende Zukunft.