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Flucht aus der Gegenwart: Wann hat die Architektur aufgehört globale Themen mitzugestalten?

Eine Rezension von Dennis Pohl

Mit einer gewissen Nostalgie blickt man heute auf die einst so politisierten 1960er-Jahre zurück, in denen sich eine ganze Generation von Idealisten und Träumern wiederfindet. Dass ein durchaus träumerischer Blick auf diese Utopien vor unserer Zeit nicht immer eine Flucht aus der Gegenwart bedeuten muss, macht die Ausstellung Superstudio Migrazioni, die noch bis zum 16. Mai 2021 im Brüsseler Architekturzentrum CIVA läuft, deutlich.

Die Collagen von Superstudio, die Designs von Archizoom, die Blubbles von Haus Rucker & Co oder die Stadtmaschinen von Archigram verkörpern nicht nur Hans Holleins Diktum von „Alles ist Architektur“, sondern auch einen Hauch von Freiheit, Emanzipation und Radikalität. Mit ihrem einst so grellen provokanten Ton verfolgten sie nichts Geringeres als die Neuordnung des Sozialen mittels der Architektur – ein wahrhaft utopischer Anspruch. Einst war die Architektur noch in der Lage, mit ihren avantgardistischen Entwürfen in sozialen, ökonomischen und politischen Umbruchsituationen das Selbstverständnis ganzer Epochen zu prägen. Folgt man dem Selbstbild der Disziplin, so wären Renaissance, Moderne und Post-Moderne nichts ohne ihre ikonischen Bauwerke. Heute stehen Architekt*innen zunehmend etwas ratlos dar, wenn es darum geht, für die gesellschaftlichen Herausforderungen wie Digitalisierung, Klimawandel oder Populismus architektonische Lösungen anzubieten. Aus der Komfortzone einer florierenden Baubranche heraus und aus Angst vor der eigenen Relevanzlosigkeit hat eine gesamte Disziplin aufgehört, sich neu zu erfinden. Stattdessen flüchtet sie sich in die Gestaltung der Realität mittels materialgerechter Ästhetik, Atmosphäre, Baukunst oder auch gerne mal „Stadtbaukunst“. Doch wann hat die Architektur aufgehört, sich mit den globalen Problemen unserer Zeit auseinanderzusetzen?

Dieser Frage hat sich in den 1970er-Jahren (ebenfalls in Zeiten globaler Umbrüche) das junge florentiner Architektenkollektiv Superstudio auch verschrieben. Unter dem Titel Migrazioni (Bewegungen) verschafft die Ausstellungen im CIVA seinen Besucher*innen nicht nur einen Einblick in die heterogenen Arbeiten einer zehnjährigen Schaffensperiode, sondern auch in den internationalen Austausch mit Institutionen wie dem Museum of Modern Art in New York, der Dreiländer-Biennale trigon 69 in Graz, oder der Architectural Association in London, in der unter anderem auch Rem Koolhaas während seines Studiums Vertreter der Architettura Radicale kennenlernen konnte.

Abb. 1, OMA (Rem Koolhaas, Zoe Zenghelis, Elia Zenghelis, Madelon Vriesendorp) Exodus, 1972. © Kristien Daem

Zu häufig werden die Arbeiten von Superstudio als monolithische Utopie des weißen abstrakten Monumento Continuo (kontinuierliches Monument) verurteilt und bleiben höchstens Designkennern als Möbelserie von Zanotta in Erinnerung. Auf eindrucksvolle Weise vermittelt das Kurator*innenteam um Emmanuelle Chiappone-Piriou, Cedric Libert unter der künstlerischen Leitung von Nikolaus Hirsch zwischen gegenwartsrelevanten Fragen und den provokanten Superstudio Entwürfen, die der Architektur durchaus eine neue Denkbewegung abverlangen, nämlich außerhalb der eigenen Disziplin zu denken.

Die dreizehnräumige Ausstellung beginnt mit einer Bewegung in den halböffentlichen Raum des CIVA, welches neben einem Buchladen auch eine Archivsammlung und eine Bibliothek beherbergt. Hier legt die Istogrammi (Histogramme) betitelte Installation aus dem Jahre 1969 den beschwerlichen Gedanken frei, den Tod der eigenen Disziplin vorauszusetzen.

Abb. 2, Istogrammi, © Kristien Daem

Der Eingang hat somit den Tod der Autorenschaft zum Ausgang, den der Semiotiker Roland Barthes zwei Jahre vor der Entstehung der Installation in seinem gleichnamigen Werk für die Literatur theoretisiert hat. Superstudio bringen diesen Gedanken in die Architektur: „Gli istogrammi si chiamavano anche ‚Le Tombe degli Architetti‘“ – die Histogramme bezeichneten sie auch als „Die Gräber der Architekten“. Mittels abstrakter weißer Geometrien, welche mit einem dünnen schwarzen Rechteckraster umhüllt sind, setzt Superstudio neben Grab- auch Grundstein dafür, die Architektur jenseits von Objekten zu konzipieren. Eine Denkbewegung, die sich durch die gesamte Ausstellung und die zehnjährige Schaffensperiode des Kollektivs zieht: eine Auseinandersetzung damit, wie eine Architektur gedacht werden kann, die das freie Leben nicht einschränkt, sondern ermöglicht.

Die Ausstellung ist chronologisch kuratiert und situiert zunächst Superstudio, darunter deren Mitbegründer Adolfo Natalini, Cristiano Toraldo di Francia, Piero Frassinelli, Alessandro und Roberto Magris, als Kinder ihrer Zeit. Studentenrevolte, Operaismus, Neomarxismus, die große Flut von Florenz sowie Aufstieg der Konsumgesellschaft gingen auch an den jungen Architekturabsolventen nicht spurlos vorbei. Ganz im Gegenteil waren diese Ereignisse Grund genug, die Architektur mit ihren eigenen Mitteln neu zu erfinden. Zusammengefasst lag der Kapitalismuskritik von Superstudio folgende Hypothese zugrunde: wenn Objekte in erster Linie dazu dienen, das Leben von sich selbst zu entfremden und somit Klassenunterschiede symbolisch herzustellen, dann müsse eine antikapitalistische Architektur in erster Linie aufhören, Objekte zu produzieren. Folglich wendete sich Superstudio von der Architektur als Objekt ab, um sich mit der Gestaltung und Funktion von Infrastruktur zu befassen, deren Belange sich an anthropologischen Konstanten der Gesellschaft orientieren anstatt an dem Ideen- und Gestaltungswillen von Individuen. Als 1972 der Club of Rome in der global angelegten Studie The Limits of Growth die Überbevölkerung des Planeten als zentrales Problem diagnostizierte, hatte Superstudio bereits eine eigene Antwort auf die Endlichkeit von Energieressourcen: Architektur als eine planetare Infrastruktur. Die terrestrische Bedingung von Ressourcenknappheit, die der entfesselte Kapitalismus zu ihrer Zeit ausgeblendet hat, weist gewisse Parallelen zur Realisierung des Klimawandels in der Gegenwart auf. Architektur sei ausschließlich durch eine planetare Ausrichtung der Planung in der Lage, diesem Problem zu begegnen, so nicht nur die Auffassung von Superstudio, sondern auch ihrer Zeitgenossen Constantinos Doxiadis oder Buckminster Fuller, die jeweils sehr unterschiedliche Ansätze verfolgten. Aus dem Umdenken der eigenen Disziplin heraus formen diese Protagonisten die Idee einer planetaren Architektur, die sich den gesellschaftlichen Diskursen seiner Zeit nicht entzieht, sondern Ansätze für das Neudenken der Rolle der gebauten Umwelt liefert.

Doch die Ausstellung führt vor Augen, dass mit der Neuausrichtung der Architektur auf globale Ziele auch ihre tradierten Mittel nach einer grundlegenden Revision verlangten. Zunächst sind die Entwurfs- und Präsentationswerkzeuge von Superstudio intermedial. Auf Papierarchitektur lässt sich das Kollektiv nicht reduzieren, selbst wenn es monumentale Zeichnungen und Collagen waren, anhand derer die Werke des Kollektivs oftmals rezipiert worden sind. So macht die Ausstellung insbesondere darauf aufmerksam, wie vielschichtig unterschiedliche Medien miteinander verbunden wurden, um Ideen und Narrative zu kommunizieren. Jeder Collage hängt ein Filmskript an, jeder Zeichnung eine Erzählung, jedem Bild ein Statement, jedem Entwurf eine ganze Kette verschiedener Medien, die den Ausstellungsbesuch zu einem multimedialen Erlebnis machen. Dabei fanden digitale Medien, deren Aufkommen seinerzeit von den ikonischen IBM 360 Großrechnerarchitekturen geprägt war, eine ebenso medienkritische Auseinandersetzung wie das Massenfernsehen. Für den Cimitero San Cataldo in Modena, den letztendlich Aldo Rossi mit seinem ikonischen Baukörper realisieren durfte, schlug Superstudio 1971 einen Gegenentwurf vor, der digitale Speichermedien in die Architektur mit einbezieht.

Abb. 3, Superstudio: Gli Atti Fondamentali, Morte, 1971 – 1973, Il cimitero di Modena, 1973. Lithography. © Centre Pompidou, Mnam-CCI

Zentral auf einer großen granitbepflasterten Fläche sieht der Entwurf einen Tempel vor, in dem die Körper der Verstorbenen in einem Säurebad aufgelöst werden, nachdem ihre gesamten Erinnerungen auf einem Datenträger abgespeichert worden sind. Diese Speichermedien würden Besucher*innen des Friedhofs die Möglichkeit bieten, in die Erinnerungen ihrer Nächsten einzutauchen. So unheimlich diese Vorstellung erscheinen mag, umso aktueller ist heute die Frage nach dem Umgang mit den digitalen Spuren, die Verstorbene hinterlassen.

Eine weitere Neuauslegung der Architektur bewirkt Superstudio durch eine Umkehrung des Rasters, welche die Ausstellung in den Vordergrund rückt. Dementsprechend dient der Vogelschwarm als Sinnbild der freien organischen Bewegung im Raum, die nach den Prinzipien der Schwarmintelligenz ihre eigene Ordnung findet. Gleichzeitig bildet das Vogelschwarmmuster das Rückgrat des berühmten Misura Rechteckrasters von 1969 und umhüllt in seiner Relevanz als dialektisches Motiv auch den Katalog der CIVA Ausstellung.

Abb. 4, Dialektik zwischen Vogelschwarm und Raster. © Kristien Daem

Seit Jahrhunderten diente das Raster bekanntlich als Kulturtechnik der Moderne zur Rationalisierung, Normierung sowie Standardisierung nicht nur der Architektur, sondern allgemein aller Lebensbereiche. Folgt man den Gedanken von Superstudio, dann liegt dem Raster eine Vermessung zugrunde, die den Menschen berechenbar macht. Diese determinierende Wirkung der Architektur wird in den Rasterentwürfen so auf das Leben hin umgekehrt, dass die Architektur eine Offenheit ermöglichen solle. Nicht grundlos sind es zumeist halbnackte Körper, die sich in den Darstellungen des Lebens im Monumento Continuo von 1970 finden lassen. Mit dem italienischen Philosophen Giorgio Agamben gesprochen, geht es Superstudio um eine Architektur, in der sich „das nackte Leben“ ohne die entfremdenden Wertschöpfungsketten von Konsum und Arbeit in all seinen Dimensionen entfalten kann. Demnach lassen sich die Entwürfe von Superstudio als eine Neuinterpretation der Moderne verstehen, die die Moderne mit ihren eigenen Bedingungen untergräbt, um sich dem reinen Leben zuzuwenden.

Dieser Zuwendung auf ein Leben jenseits von Objekten widmet sich insbesondere der letzte Ausstellungsraum im CIVA, der die junge Gruppe in der Auseinandersetzung mit vorkapitalistischen Gesellschaften thematisiert. Darunter fallen unter anderem die Global Tools Workshops Mitte der 1970er-Jahre, in denen sich das Kollektiv vollständig davon befreit hat, auf rein visueller Ebene zu arbeiten, um sich mit den kollektivbildenden Techniken des Selbstbaus sowie Bräuchen und Ritualen auseinanderzusetzen.

Abb. 5, Progettazione Primaria, © Kristien Daem

Diese Studien der Archaik legten nicht nur eine neue Form der Kritik offen, mittels derer der Überkonsum von Objekten in modernen Gesellschaften ad absurdum geführt werden konnte, sondern suchten auch nach dem, was das nackte Leben bedingt. Die Frage, die sich Superstudio in dieser letzten Phase der Zusammenarbeit gestellt hat, war nicht wie wir leben wollen, sondern ob wir leben wollen. Frei nach Adornos Kritik „es gibt kein richtiges Leben im falschen“, setzen die Werke von Superstudio an den Bedingungen davon an, was als Leben verstanden wird. Wenn Konsum und Kapital nach wie vor die Sicht darauf versperren, was das Menschsein essentiell ausmacht, dann eröffnet die Ausstellung von Superstudio eine Suchbewegung, sich dieser philosophischen Frage mit architektonischen Mitteln zu nähern. Heute legt die Dringlichkeit dieser Auseinandersetzung in Anbetracht des globalen Klimawandels wieder nahe, in der Architektur nicht die Lösungen dafür zu suchen, wie wir leben wollen, sondern ob wir als Menschheit überleben wollen.

 

Die Ausstellung Superstudio Migrazioni ist noch bis zum 16 Mai 2021 im CIVA in Brüssel zu sehen. Für nähere Infos und Online Events, siehe: https://civa.brussels/en/exhibitions-events/superstudio-migrazioni. Insta: @civabrussels