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Der Abkühlungsprozess des Digitalen

Florian Lamm und Konrad Renner, Gestalter der neuen ARCH+ Website, im Gespräch mit Anh-Linh Ngo

Anh-Linh Ngo: Vor wenigen Wochen sind wir mit unserer neuen Website live gegangen, die ihr konzipiert und gestaltet habt. Wie habt ihr euch mit der ARCH+ auseinandergesetzt und in welchem Verhältnis steht für euch die Website zum gedruckten Heft?

Florian Lamm: Unsere Überzeugung ist, dass das Digitale Print nicht ersetzen wird. Es handelt sich um zwei sehr unterschiedliche Medien mit je eigenen Qualitäten. Und es geht genau darum, diese Unterschiede herauszuschälen. Die ARCH+ Hefte haben eine Qualität, die sich im Digitalen an vielen Stellen schwer erreichen lassen: Ich verstehe sie als ein architekturtheoretisches Diskursarchiv mit hoher inhaltlicher Dichte. Die Themen und Beiträge sind nicht tagesaktuell gebunden, auch wenn die Hefte natürlich auf aktuelle Entwicklungen reagieren. ARCH+ ist somit keine klassische Zeitschrift, sondern eine, die ich auch nach 20 Jahren noch aus dem Regal ziehen kann und in der auch nach der Zeit noch relevante Beiträge zu finden sind. Durch die inhaltliche Tiefe und den Archivcharakter besitzt sie etwas Zeitloses. Dem Digitalen sollte hier die Aufgabe zukommen, die Hefte zu ergänzen, abzubilden und zugänglich zu machen. Aber es wird keinen kompletten Ersatz darstellen.

Konrad Renner: Wenn man durch die ARCH+ blättert, merkt man, dass dort wahnsinnig viel auf wenig Platz passiert. Daher war ein zentrales Vorhaben in diesem Projekt, diese Dichte und Vielsprachigkeit auf den Bildschirm zu übertragen. In der Regel passiert das nicht bei der Übersetzung von Print zu digital. Denn im Digitalen herrschen unzählige Abhängigkeiten. Die einfachste Lösung dafür ist, die visuellen Elemente möglichst weit voneinander entfernt zu platzieren, damit sie sich entfalten können, ohne sich gegenseitig zu berühren. So vermeidet man visuelle Konflikte. Im Print lassen sich diese leicht lösen, da man dort spezifisch auf die jeweiligen Inhalte, Textlängen, Sprachen, Formate und Bilder eingehen kann. Ein Printprodukt folgt außerdem einer Narration und einer Dramaturgie, hat einen Rhythmus aus Pausen und Verdichtungen. Bei der ARCH+ kommt die Besonderheit hinzu, dass jede Ausgabe einen eigenen Charakter hat. Im Digitalen müssen wir hingegen immer von einem Template ausgehen, das viele Zustände annehmen kann, aber visuell immer gleich gut funktionieren soll. Daher ist es sehr schwierig visuelle Komplexität an einem Bildschirm herzustellen, die responsiv, das heißt ineinander in Beziehung gesetzt, funktioniert. Es ist stets ein Versuch der Annäherung, bei dem Unterschiede bleiben. Wie beim Übersetzen zwischen zwei Sprachen kommen neue Wörter hinzu, andere entfallen. Manchmal aus Versehen, manchmal, weil ein Wort in der anderen Sprache nicht existiert.

ALN: Wie funktioniert diese Übersetzung der Verdichtungselemente in das digitale Medium konkret? Für mich ist die Frage der Übersicht zentral. Der Bildschirm bietet nur einen begrenzten Platz für die Anzeige, gleichzeitig wollten wir vermeiden, dass die Nutzer*innen ständig vor und zurück klicken müssen.

KR: Beim physischen Heft findet die Verdichtung in dem Augenblick statt, wenn man es zum ersten Mal in die Hand nimmt, das Gewicht spürt und an den Seitenrändern grob durch das Heft blättert. Bei der Website klicke ich auf das Heft, wenn mich das Cover interessiert, und lande bei einer Heftansicht mit einer zusammengeschobenen Darstellung aller Artikel. Durch Scrollen gelangt man schnell durch die Ausgabe und bekommt sofort ein Gefühl für den Umfang der Publikation. Bei diesem Durchblättern beziehungsweise -scrollen bekommt man bereits ein Gespür für die Unterschiedlichkeit der einzelnen Artikel und die generelle Gliederung des Heftes in Kapitel, die durch die schwarzen Trennbalken markiert sind. Wir hätten die erste Heftansicht noch weiter kondensieren können, wenn wir sie wie ein Inhaltsverzeichnis in kleiner Schrift auf einen Bildschirm gesetzt hätten. Das hätte zwar für einen schnellen visuellen Überblick gesorgt, aber nicht für ein Gefühl von inhaltlicher Dichte. Dafür ist das Scrollen wichtig.

Physische Gesten ins Digitale übertragen

ALN: Wir vermeiden also an dieser Stelle den hypertextuellen Aspekt, der das digitale Medium eigentlich auszeichnet. Ausgangspunkt für den Online-Reader war die gedruckte Zeitschrift mit ihren monothematischen Fokussierungen. Die einzelnen Beiträge stehen in einem bestimmten argumentativen Zusammenhang und lassen sich ein- und ausklappen. Man springt also nicht hin und zurück. Doch wie könnte man in einem nächsten Schritt die hypertextuellen Möglichkeiten des Digitalen integrieren?

FL: Es handelt sich hier um zwei Dinge, die wir nicht durcheinanderbringen sollten. Momentan befinden wir uns im Lesemodus der Ausgaben, was im Kern ganz gut das trifft, was wir vorhatten: Die ARCH+ ins Digitale überführen. Mit dem Durchscrollen und dem Rein- und Rausgehen haben wir die Bewegung, die es beim Lesen der physischen Ausgabe gibt, digital aufbereitet. Dafür haben wir die Leserichtung aus dem horizontalen Blättern um 90 Grad ins Vertikale gedreht und damit die physische Struktur digitalisiert, weil die Scroll-Richtung auf diese Weise funktioniert. Die Struktur des Heftes bleibt dabei unangetastet. Es geht also nicht nur darum, sich im Digitalen lediglich den Gestaltungselementen anzunähern, sondern auch darum, die Gesten der analogen Nutzung zu übertragen.
Eine andere Frage ist, wie sich die einzelnen Artikel in einer Metastruktur verhalten. Wie lassen sich daraus eigene Meta-Ausgaben, oder thematische Cluster, aus einem großen Bestand von Themen generieren, der sich über 50 Jahre ARCH+ akkumuliert hat? Das wäre dann ein Alleinstellungsmerkmal für die digitale ARCH+. An einer Stelle kann man sich ohne viel Ablenkung auf das Heft in einer digitalen Übersetzung konzentrieren und an anderer Stelle versucht man, das volle Potential des Digitalen auszuschöpfen.

ALN: Mike Meiré hat beim Redesign der ARCH+ vor über 12 Jahren bewusst die Typo fast bis zum Rand ausgedehnt und die Seiten mit Bildern gefüllt, um möglichst wenig Weißraum zu lassen und so die Inhalte der ARCH+ zu betonen. Er nannte das eine „Ästhetik für Substanz“. Wie habt ihr die Dichte in diesem Sinne ins Digitale übersetzt?

KR: Unter anderem, indem wir im Heftteil Zweispaltigkeit einsetzen, um lange Texte darzustellen. Das ist für eine Website sehr ungewöhnlich.

ALN: Dabei ruft die Spaltigkeit ja sofort Printformate ins visuelle Gedächtnis. Warum wird das so selten gemacht?

KR: Weil es kompliziert ist. Es lässt sich nicht einfach mit einem beliebigen Template generieren. Zweispaltigkeit führt auf Bildschirmen häufig zu Problemen. Man liest in der einen Spalte, scrollt dabei nach unten und muss dann wieder nach oben scrollen, um die zweite Spalte zu lesen. Das haben wir umgangen, indem wir für jeden Bildschirm die optimale Zweispaltigkeit berechnen. Dafür müssen die Textmenge, das Seitenverhältnis des Bildschirms und darüber hinaus alle Elemente der Textgliederung wie Absätze und Umbrüche berücksichtigt werden. Natürlich kann man auch den einfachen Weg gehen. Heute ist es üblich mobile first zu denken. Eigentlich heißt das nichts anderes, als alle visuellen Elemente auf dem Bildschirm untereinander zu reihen. In einer einzigen Spalte folgt Bild auf Text auf Bild und so weiter. Für Grafikdesigner*innen ist das eine erniedrigende Aufgabe. Selbstverständlich ist die mobile Ansicht wichtig, aber viele lesen Inhalte trotzdem noch am Computer. Deshalb wollten wir versuchen, dieses aus dem Print bekannte und gut funktionierende Moment ins Digitale zu übersetzen. Natürlich ist die Zweispaltigkeit an manchen Stellen uneleganter als in der Printversion, weil wir sie automatisch berechnen müssen. Aber sie erzeugt Dichte statt einer großen Weißfläche, in deren Mitte ein einsamer Text vor sich hin tröpfelt. Für das Leseerlebnis, für das Rezipieren eines Textes als Objekt ist diese Verdichtung viel spannender.

Abkühlungsprozess und das Erwachsenwerden des Mediums

ALN: Vereinzelt haben wir die Verdichtung verstärkt, wie z.B. durch das Einbinden der Trailer zu den Heften. Doch noch gehen wir sehr sparsam mit den überbordenden Möglichkeiten des Digitalen um. Wie ist diese digitale Zurückhaltung zu erklären?

FL: In Anlehnung an Marshall McLuhan würde ich sagen, dass sich ein Medium über die Zeit abkühlt und in diesem Abkühlungsprozess seine wahre Bestimmung findet. So schälen sich auch die Qualitäten des Internets erst langsam heraus, wie zum Beispiel im aktuellen Social-Media-Diskurs. Erst seit einigen Jahren stellt sich die Frage, welchen Einfluss die neuen digitalen Plattformen und die Bewertungsalgorithmen auf die Politik haben, auf Wahlen oder die öffentliche Meinung, aber auch auf die sozialen Verhältnisse und die Psyche.
Eigentlich ist das digitale Lesen nichts Neues mehr, es wird lediglich immer relevanter. Dabei gibt ganz unterschiedliche Vorteile, teils auch sehr analoge Vorteile. Vielleicht möchte ich in Zeiten, in denen ich manchmal schnell umziehen muss, nicht mehr vor einer riesigen Bücherwand sitzen und diesen physischen Ballast mit mir herumtragen müssen. Ich kann im Digitalen eine große Menge an Daten und Dokumenten stets griffbereit haben.
Dennoch kann eine digitale Bibliothek nur bis zu einem gewissen Grad funktionieren. Momente des Stöberns in einer Universitätsbibliothek sind schwierig zu übersetzen. So sehe ich es auch bei der ARCH+: Das digitale Angebot kann und muss das Printformat nicht ersetzen, sondern kann es einfach Stück für Stück ergänzen.

ALN: Welche Schritte müssen unternommen werden, damit sich der Abkühlungsprozess und das Erwachsenwerden des Mediums einstellen kann? Was wird sich eurer Meinung nach in den nächsten Jahren verändern?

FL: Es kursierte immer die Annahme, dass Menschen nicht bereit wären, für digitale Inhalte zu bezahlen. Doch genau das ändert sich gerade dramatisch. Auf gut aufbereitete digitale Inhalte wird durchaus Wert gelegt und viele sind bereit, dafür zu bezahlen. Diese Verhaltensänderung hat etwas damit zu tun, dass sich die Angebote immer weiter ausdifferenzieren und qualitativ besser sowie einzigartiger werden. Es lohnt sich ein Online-Abo für eine Zeitung abzuschließen, wenn die Inhalte, die mich interessieren, dort gut recherchiert und aufgearbeitet sind. Und auch die ARCH+ kann sich in Zukunft noch weiter dahingehend ausrichten. Man könnte sich beispielsweise vorstellen, anstatt ein Gebäude in Fotos zu zeigen, einen Videorundgang zu produzieren. Oder abgefilmte Interviews könnten als Ergänzung zum gedruckten Beitrag auf die Website gestellt werden. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, wie sich das in Zukunft ausprägen könnte. Die neuen Medien lassen sich unheimlich schwer in Print übersetzen. VR- oder AR-Experiences bekomme ich nicht ins Druckmedium übertragen. Auf einer Website jedoch könnte ich mit solchen Formaten arbeiten.

ALN: Wie Du bereits angedeutet hast, hängt die Ausweitung der digitalen Mittel unmittelbar mit dem ökonomischen Modell zusammen, da zusätzliche Arbeit und Investitionen notwendig werden. Wir können nicht einfach ein Interview abfilmen und es online stellen, sondern es bedarf einer spezifischen Übersetzung. Es hat sich bei der neuen Website herausgestellt, dass der Online-Reader eine ganz eigenständige Arbeit ist, die nach dem Druck des Heftes zusätzlich auf uns zukommt. Für uns als kleiner Verlag mit wenigen Ressourcen im Rücken ist es schwierig das alles zusätzlich abzudecken. Hast Du Erfahrungen, wie man dieses Problem in den Griff bekommen könnte?

FL: Es stimmt, dass das Digitale gleichberechtigt zum Print ist. Das spiegelt sich schon in der Arbeit wider. Das ist nicht zu unterschätzen, aber das führt eben auch zu einem gleichwertig neuen Format.
Ich denke, die technologischen Hürden werden immer kleiner. Hier gibt es eine wahnsinnig schnelle Entwicklung. Ich kann mit einem Smartphone mittlerweile Bilder aufnehmen, die so professionell sind, dass ich damit auch ein Interview filmen kann, ganz ohne Riesenequipment. Dafür braucht es natürlich immer noch einen gewissen Grad an Erfahrung und Arbeitskraft, aber wir sind nicht mehr an ein Expertenteam gebunden. Außerdem dürfen wir nicht vergessen, dass auch andere Leute immer stärker Inhalte mit digitalen Medien produzieren. Zum Beispiel lässt sich ein Drohnenflug, den ein Architekturbüro selbst aufgenommen hat, um sein Projekt zu dokumentieren, leicht einbinden. Die Projektdokumentationen gehen generell stärker in Richtung Bewegt-Bild. Animierte oder live-animierte Rundgänge durch Gebäude lassen sich mittlerweile relativ einfach generieren. Man muss nur aus den visuell schon gut funktionierenden Produkten, die von ästhetisch gebildeten Menschen gestaltet wurden, auswählen, ohne selbst einen wahnsinnig hohen Produktionsaufwand haben zu müssen.
Ich kann mir zum Beispiel ein Zukunftsszenario für die ARCH+ vorstellen, bei dem die Inhalte viel medialer auf der Website stehen und die Printausgabe viel textlastiger wird. Die ARCH+ wird vielleicht zu einer Buchreihe und die Vermittlungsarbeit geschieht im Digitalen. Das eine ist eine Oberfläche, das andere geht in die Tiefe.

Leben auf dem Bildschirm

ALN: In diesem Zusammenhang stellt sich für mich auch die Frage nach der Verknüpfung von Print und Live-Formaten. Was war eure Herangehensweise, um die Zeitschrift, die wir im Kern machen, mit dem gesamten Universum zu verweben, das wir darum herum aufgebaut haben? Wie habt ihr das Heft mit den Veranstaltungen, den Projekten, den News und den für eine Website üblichen Servicebereichen verbunden, aber auch davon abgegrenzt?

KR: Eine wichtige Verbindung zu den restlichen Modulen der Website ist der Umgang mit Schrift. In den Heften selbst und auch in deren digitaler Übersetzung gibt es ein reiches typografisches Repertoire, an Schriftarten und -größen, unterschiedlicher Spaltigkeit und Portionierung. Diese typografische Sprache haben wir auch auf die anderen Inhalte jenseits der Hefte übertragen. Doch diese Teile sollten bewusst etwas ephemerer wirken als die Publikation. Um einen Unterschied zum Heftteil herzustellen, arbeiten wir mit getönten Hintergründen, mit anderen Bildgrößen und Bildmomenten, und einer etwas gedrungeneren Spaltigkeit. Neben diesen großen Themen gibt es kleine Interface-Momente, die einer Website eine Identität geben und dafür sorgen, dass man sich unabhängig vom Inhalt an sie erinnert. Ein wichtiges Element ist beispielsweise das Plus. Wir haben das Plus, das Teil des Logos und des Brandings von ARCH+ ist, aufgegriffen als Verweis auf die aufklappbare Menüleiste, aber gleichzeitig als einen beim Scrollen mitwandernden Indikator, auf welcher Höhe der Seite ich mich befinde. Das hatte sich erst im Prozess ergeben. Bei der Planung der Website denkt man im Vorfeld über Daten und komplizierte Strukturen nach. Am Ende fängt es auf dem Bildschirm an zu leben. Letztlich geht es bei der Gesamtarchitektur der Seite natürlich auch um Übersichtlichkeit, damit sich die Nutzer*innen in den vielen Veranstaltungen, News und Debattenbeiträgen, die ARCH+ über die Hefte hinaus in den vergangenen Jahren angereichert hat, zurechtfinden. Dafür verwenden wir zum Teil den Nutzer*innen bekannte Elemente wie etwa Kachelübersichten. Es gibt andere Herangehensweisen, aber ich halte es für wichtig, immer auch auf Erlerntes zurückzugreifen.

FL: Trotz aller Versuche der Übersetzung hat das Gedruckte dennoch eine ganz große Qualität, die das Digitale niemals haben wird. Print ist stets ein fixierter Zustand, freigegeben in dem Moment, in dem es produziert wurde. Aus diesem Grund gibt es beispielsweise wenige digitale Kunstkataloge, die an die Stelle der normalen Kunstkataloge rücken, da die Verbindlichkeit über multiple Ausgabeformate wie zum Beispiel den unterschiedlichen Monitoren und Farbsystemen nicht hergestellt werden können. Auch Bild-Text-Verhältnisse lassen sich im Digitalen ganz anders strukturieren als im Gedruckten. Das Gleiche gilt für die Textübertragung. In der gedruckten ARCH+ kann ich Zitate leicht auf der jeweiligen Seite und in der entsprechenden Zeile verorten. Diese physische Unmittelbarkeit fehlt im Digitalen.

Akademische Ansprüche an digitale Medien

ALN: Das wurde in der Tat bereits von Online-Abonnent*innen angemerkt. Es sei ein Problem, mit der Online-Ausgabe wissenschaftlich zu arbeiten und zu zitieren, da es keine Seitenzahlen gibt. Die Zitierfähigkeit funktioniert ja nicht nur einfach über einen normalen Link, sondern muss darüber hinaus auch den Ansprüchen des akademischen Systems genügen. Wie könnte das gelöst werden?

FL: Es gibt mittlerweile Systeme, die diese Metainformationen abgreifen können. Dabei werden Dokumente mit unique IDs hinterlegt. Das sind aber eher wissenschaftliche Paper-Verwaltungssysteme, in denen jedes publizierte Paper eine ID erhält, über die man dann zitiert. Tatsächlich ist es aber ein sehr europäisches Problem in den Geisteswissenschaften. In den Naturwissenschaften sieht das teilweise schon viel entspannter aus. Wir müssen uns hier vielleicht von zwei Seiten her annähern. Einerseits müssen sich die Zitationseigenschaften in gewissen geisteswissenschaftlichen Bereichen ändern. Ansonsten wird es nur schlecht funktionieren, sich auf moderne Medien zu beziehen, die nicht den wissenschaftlichen Standards entsprechen, aber trotzdem für die Theoriebildung relevant sind. Und andererseits müssen wir überlegen, ob an gewissen Stellen Informationen eingeführt werden, die als Äquivalent zur Seitenzahl dienen. Wahrscheinlich müssen sich die Wissenschaften hier von einigen Standards verabschieden, ansonsten verpassen sie den Anschluss ans Digitale.

ALN: Das setzt im Grunde eine Verhaltensänderung voraus. Interessant ist, dass nach dem Relaunch überdurchschnittlich viele Studierende Print-Abos abgeschlossen haben. Wie schätzt ihr die kommenden Generationen ein? Wie wird sich das Verhältnis zwischen Print und Digital bei ihnen austarieren?

FL: Print hat ein Imageproblem in der Kategorie Zeitung. Aber die ARCH+ ist keine klassische Zeitung, sondern eine Art reichhaltig bebildertes Theoriebuch. Sie bewegt sich in einer Nische, in der es auch die Legitimation hat, gedruckt zu werden. Wenn man sich tiefergehend mit einem Thema auseinandersetzen möchte, dann bestellt man einfach das Magazin. Die neu abgeschlossenen Abonnements haben aber wahrscheinlich auch mit der Themensetzung zu tun, die besonders bei einer jungen Generation einschlägt. Ich sehe nicht, warum sich das ändern sollte.

ALN: Konrad, du lehrst seit 2017 als Professor für Digitale Grafik an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg. Welche Erfahrung hast du dabei mit der jungen Generation im Hinblick auf ihr Medienverhalten gemacht? Verändert das auch deine eigene Gestaltungspraxis?

KR: In meiner Beobachtung ist die verbreitete Annahme, dass sich die jüngere Generation ausschließlich in den schnelllebigen Informationshappen der sozialen Medien bewegt, falsch. Für diese Generation ist das Digitale nicht das Besondere, sondern das Normale. Sie nutzen deshalb auch selbstverständlich alle Formen des Publizierens, natürlich auch klassische Websites, wie wir sie hier erstellt haben.

Die Erschließung von Archiven erfordert Disziplin

ALN: Trotzdem ist der Umgang mit Medien natürlich ein Verhalten, das erlernt wird und damit einem Wandel unterworfen ist. Das hat uns auch beim Redesign der Printausgabe beschäftigt. Damals wurde viel über die „Häppchenkultur“ des Internets diskutiert, viele Zeitschriften kürzten ihre Texte, um einerseits zu sparen und andererseits sich dem vermeintlichen Leseverhalten anzupassen. Wir haben stattdessen den Ansatz verfolgt, das Printmedium in seiner Charakteristik zu stärken. Die neue Website zeigt, dass die Logiken, denen jedes Medium folgt, nicht in Stein gemeißelt sind. Die umfangreichen Inhalte einer ARCH+ Ausgabe lassen sich auch mittels dieses Mediums darstellen. Der Relaunch der Website ist allerdings nur der erste Schritt. Die Heftübersicht zeigt, welche Themen existieren, doch dahinter versteckt sich das noch unerschlossene Archiv der letzten 5 Jahrzehnte. Mike Meiré hat uns damals eine Nerdiness in einem positiven Sinne attestiert, einen Drang, alles akribisch aufzuklären, zu hinterfragen, tief zu durchdringen. Ich habe den Eindruck, dass das mittels des digitalen Mediums sogar noch besser funktioniert als mit einem Heftarchiv im Regal, weil man sich darin tatsächlich in der Tiefe verlieren kann. Wie könnte man so ein Archiv erschließen und erlebbar machen? Wie bringt man die tausenden von Texten wieder an die Oberfläche?

KR: Bei dem Gedanken an diesen anstehenden Schritt bekomme ich Angst. In meiner Erfahrung neigen Archivprojekte dazu, auch das kleinste Kieselsteinchen auf die höchste Stufe zu stellen. Das sorgt irgendwann für Chaos. Das liegt an den vielen Möglichkeiten: Natürlich können wir jeden Text mit unzähligen Schlagworten versehen. Wir können sämtliche Texte nach ihren Autor*innen sortieren oder nach formalen Kriterien herausfiltern. Aber ich halte es für viel produktiver, darüber nachzudenken, was Menschen interessiert, statt darüber, was eine Datenbank interessiert. Dafür müssen wir genau überlegen, welche Nutzer*innen es gibt und welche Wege diese beschreiten können. Diese Wege müssen wir ebnen und überprüfen, ob sie wirklich zu einem Ziel führen, statt einfach alles möglich zu machen. Denn dann ist die Gefahr groß, sich zu verlaufen. Disziplinierte Archive sind großartig. Archive, die funktionieren wie eine Wunderkammer oder wie ein unendlich großes Rhizom, sind kontraproduktiv.

ALN: Ich denke eher an den Bilderatlas von Aby Warburg. In dem Sinne, dass es gar nicht darum geht, alle Details herauszuarbeiten, sondern Verwandtschaften herzustellen, Lesbarkeiten anzubieten.

KR: Absolut. Doch diese Arbeit, Verbindungen und interessante Cluster herzustellen, können wir keinem Computer überlassen. Die Erschließung von Archiven hat mit menschlichen, d.h. kulturellen Perspektiven auf diese Inhalte zu tun. Auch Algorithmen, die durch eine Datenbank laufen, helfen nur bedingt. Da haben wir viel Arbeit vor uns. Aber die ist spannend. Und wenn man ihr mit Offenheit und Disziplin gleichzeitig begegnet, dann ist sie auch zu meistern.

ALN: Die alte Website hat 10 Jahre gehalten. Die Technik entwickelt sich rasend schnell weiter. Was seht ihr jetzt schon am Horizont auftauchen?

FL: Was ich an der neuen Seite sehr schätze, ist die Struktur, die wir gefunden haben und die sehr gut funktioniert, sowie die Art und Weise, wie großzügig Bilder zum Text stehen und wie sie miteinander verschränkt sind. Sie wirkt weiterhin aktuell, obwohl der erste Entwurf bald 5 Jahre alt ist. Die Seite kann als etwas Eigenständiges neben dem Heft stehen, ohne dabei die Identität der ARCH+ einzubüßen oder belanglos zu wirken.
Ich glaube, in Zukunft wird alles noch viel fluider. Die Seitenstruktur ist bisher noch relativ konventionell. Aber es wird zurzeit wahnsinnig viel experimentiert, um diese herkömmlichen Strukturen aufzulösen. Und ich glaube auch, die zentralisierten Systeme des Internets sind gerade in einem Abwärtstrend und neue dezentrale Systeme werden relevanter.

ALN: Dezentralität war doch die ursprüngliche Idee des Internets. Die Zentralisierung ist letztlich durch die Monopolstellungen der Plattformen entstanden.

FL: Genau. Monopole wird es natürlich weiterhin geben. Clubhouse ist da ein Beispiel. Clubhouse funktioniert zwar strukturell dezentral, aber es steht natürliche eine Institution dahinter, die die ganzen Daten abgreift. Doch ich glaube, dass diese dezentralen Momente in den Systemen und das direkte Kommunizieren immer wichtiger werden und dadurch auch neue Formen der Kommunikation ermöglichen werden. Die Zeitlichkeit der Kommunikation spielt wieder eine größere Rolle. Snapchat ist nur solange sichtbar bis sie von allen Adressaten gesehen worden sind, Clubhouse ist nur in dem Moment hörbar, in dem es auch stattfindet. Datenökonomisch ist das äußerst sinnvoll und die zeitliche Exklusivität betont die Bedeutsamkeit der Inhalte.

ALN: Nicht nur daten-, sondern auch aufmerksamkeitsökonomisch ist das eine interessante Entwicklung, die zudem die temporäre Gemeinschaftsbildung wieder verstärkt in den Vordergrund rückt. Entdeckt die Netflix-Generation, salopp gesagt, das Live-Fernsehen wieder?

FL: Das ließe sich so betrachten, aber ich würde das viel rigoroser argumentieren: Es muss nicht alles gespeichert werden. Und es muss auch nicht alles immer permanent verfügbar sein. Das Internet ist mehr als ein Meta-Archiv, das alles speichert. Es kann temporäre Öffentlichkeiten schaffen. Diese zeitliche Dimension macht das Medium auch im McLuhan‘schen Sinne zu einem „coolen“ Medium.