Kontext
Facebook, Airbnb & Co., deren Geschäftsmodell auf der Kommerzialisierung sozialer Beziehungen basiert, haben Begriffe wie Community oder Sharing in leere Worthülsen verwandelt. Konzepte wie ‚Wir‘ oder ‚Teilen‘ stehen nicht mehr für Solidarität oder eine progressive politische Agenda, sondern bilden die Grundlage des aufkommenden Plattformkapitalismus. Begleitet wird diese ökonomische Entwicklung von einer weltweiten politischen Wende, die sich aus überkommenen Gemeinschaftsvorstellungen von Identität und Zugehörigkeit, Ausgrenzung und Diskriminierung speist.
Vor diesem Hintergrund will das Ausstellungs- und Publikationsprojekt An Atlas of Commoning den offenen und emanzipatorischen Raum des Wir zurückerobern und neu definieren. Das Projekt fokussiert dabei auf städtische Gemeingüter, die heute jedoch weit mehr als die traditionellen Allmenden umfassen und sich auch auf immaterielle Bereiche wie Wissen, Daten und Governance erstrecken. Unter Gemeingut wird hier die Schaffung und Bewirtschaftung (materieller und immaterieller) kollektiver Ressourcen und Räume verstanden, die die Grundlage demokratischer Teilhabe bilden.
Diese Bedeutungsverschiebung bringt die Wortneuschöpfung ‚commoning‘ beziehungsweise ‚gemeinschaffen‘ als Verb zum Ausdruck. Gemeinschaffen ist ein Prozess der Aushandlung von Unterschieden und Konflikten zwischen Individuum, Gemeinschaft und Gesellschaft. Ein Prozess der räumlichen Organisation der Beziehungen zwischen Produktion und Reproduktion, Eigentum und Zugang zu Ressourcen. Ein Prozess, in dem Solidaritätsnetzwerke geknüpft und die individuellen und kollektiven Rechte neu definiert werden. Das Projekt stellt somit die vorherrschenden sozialen und politischen Strukturen in Frage und sucht nach neuen Formen der kollektiven und dennoch pluralistischen Governance.
Ausstellungskonzept
Ausgangspunkt der Ausstellung bildet ein Atlas, ein visuelles Archiv im Sinne Aby Warburgs mit vielfältigen Fallbeispielen aus Geschichte und Gegenwart. Der Atlas, der von ARCH+ in Zusammenarbeit mit der School of Architecture der Carnegie Mellon University erarbeitet wird, präsentiert Projekte des Gemeinschaffens in Hinblick auf ihr Regelwerk sowie ihren architektonischen und räumlichen Ausdruck.
Die zunächst 25 ausgewählten Kernprojekte werden im Zuge der Ausstellungstournee an den verschiedenen Ausstellungsorten unter Mitwirkung lokaler Akteure ergänzt und erweitert. So wächst der Atlas of Commoning als offenes Wissensarchiv zu einer wertvollen Dokumentation lokaler Grassroots-Projekte.
Der Atlas geht in eine vertiefte Untersuchung dreier thematischer Spannungsfelder über, in denen sich die konflikthaften Aushandlungsprozesse des Gemeinschaffens abspielen:
Eigentum – Zugang beschäftigt sich mit den klassischen Fragen des Gemeinguts und hinterfragt unser Verständnis von Eigentum, mit einem speziellen Fokus auf die Bodenfrage angesichts der zügellosen Kommodifizierung der städtischen Umwelt.
Produktion – Reproduktion widmet sich der Auflösung der modernen Funktionstrennung von Wohnen und Produktion und wirft Licht auf neue, kollektive Formen des Arbeitens und Lebens jenseits der Paradigmen des 20. Jahrhunderts, deren Grundlage die Genderpolitik der häuslichen Arbeit bildete.
Recht – Solidarität erforscht den Begriff der universellen Rechte im Kontext des globalen Kapitalismus und diskutiert neue Modelle der Governance, die über die Grenzen der Nationalstaaten hinausreichen.
Die Themenfelder beinhalten ausgewählte Fallbeispiele aus dem Atlas, die unter Einsatz verschiedener Medien eingehend analysiert werden. Eine herausgehobene Stellung nehmen dabei Architekturmodelle ein, die in Zusammenarbeit mit dem Institut für Architektur der TU Berlin entstehen und als konzeptuelle Darstellungen kollektiver Prozesse in architektonischer Form umgesetzt werden. Künstlerische Arbeiten eröffnen darüber hinaus weitere Zugänge zum Thema und reflektieren die Wechselbeziehungen zwischen Individuum, Gemeinschaft, Gesellschaft und Welt. Im Zusammenspiel der Projekte und Formate entfaltet sich ein Netzwerk der Ideen für ein solidarisches und emanzipatorisches Gemeinschaffen, welches das Individuum nicht in der Gemeinschaft gleichschaltet, sondern das Einzigartige, das Andersartige und das Besondere zu entscheidenden Qualitäten des Miteinanders macht.
Im Rahmen der Ausstellung erscheint die Ausgabe 232 von ARCH+, die einen weitreichenden Einblick in wichtige theoretische Positionen und praktische Beispiele gibt. Ziel ist ein multiperspektivischer Überblick über das Gemeinschaffen als entscheidendes Instrument transkultureller Verständigung und als Potential globaler Vernetzung über ökonomische und nationale Grenzen hinaus.
Mit Beiträgen von:
Morehshin Allahyari & Daniel Rourke; Assemble & Granby Workshop; Iwan Baan; Brandlhuber+ Christopher Roth; DAAR Decolonizing Architecture Art Residency; Theo Deutinger; Eureka; Manuel Herz; Sandi Hilal, Philipp Misselwitz und Anne Misselwitz; Immo Klink; Kotti & Co; clemens krug architekten und Bernhard Hummel Architekt (Team: Oliver Clemens, Anna Heilgemeir, Bernhard Hummel, Emma Williams); Kuehn Malvezzi; Angelika Levi; Golan Levin (F.A.T. Lab) & Shawn Sims (Sy–Lab); Makoko Waterfront Community; Tukano Maloca; Miethäuser Syndikat; National Union of Sahrawi Women; NLÉ Architects; PlanBude Hamburg, Svenja Baumgardt und Sylvi Kretzschmar; Common Ground e.V. und Nachbarschaftsakademie; Quest – Florian Koehl und Christian Burkhard; Martha Rosler; Harald Trapp und Robert Thum; Urban-Think Tank, Chair of Architecture and Urban Design ETH Zürich; WiLMa19; Samson Young
Der Atlas of Commoning enthält zudem Arbeiten von:
Airbnb; ARGE ifau | HEIDE & VON BECKERATH; Atelier d’Architecture Autogérée; BARarchitekten; Bau- und Wohngenossenschaft Spreefeld Berlin eG; Carpaneto Schoeningh Architekten; City in the Making; FATkoehl; Die Zusammenarbeiter; El Campo de la Cebada; Genossenschaft Kalkbreite; Genossenschaft Kraftwerk1; Go Hasegawa and Associates; IBeB GbR; Müller Sigrist Architects; Refugee Accommodation and Solidarity Space City Plaza; Schneider Studer Primas; Stiftung House of One – Bet- und Lehrhaus Berlin; Gemeinde Yoshino; ZUS [Zones Urbaines Sensibles]
Zeichnerische Collagen
Ernest Bellamy, Tamara Cartwright, Connie Chang, Nickie Cheung, Yidan Gong, Paul Moscoso Riofrio, Sujan Das Shrestha, Chun Zheng, Lu Zhu (CMU Pittsburgh) sowie Christine Bock und Ulrich Pappenberger
Architekturmodelle
Aaron Barnstorf, Sarah Baur, Sebastian Georgescu, Alexander Grams, Mirko Hahn, Nicolas Herre, Gerrit Jasper, Rosanna Just, Jakob Köchert, Laura Lüttje, Miriam Möser, Stefan Neumaier, Daiki Ori, Canan Öztekin, Luisa Pöpsel, Nadine Reppert, Selina Schlez, Hans J. Walter (TU Berlin), Martin Edelmann (ifa) und Quest – Florian Köhl und Christian Burkhard
Rahmenprogramm
… commoning kids
Kunstvermittlung von Inci Güler für Kinder zwischen 7 und 12 Jahren
Die Inhalte der Ausstellung An Atlas of Commoning: Orte des Gemeinschaffens werden im Laufe des Workshops vertieft. Zunächst besuchen wir gemeinsam die Ausstellung und setzen uns anhand der Exponate mit dem Thema des Gemeinschaffens auseinander. Direkt danach folgt ein gemeinsamer Erkundungsspaziergang durch die Nachbarschaft des Bethanien: Was sehen wir? Welche Commoning-Projekte kennen wir? Wie können wir die eigene Umgebung – ob Schule, Park, Spielplatz, Platz, Kiez oder die ganze Stadt – aktiv mitgestalten? Anschließend folgt eine praktische und kreative Auseinandersetzung mit dem Thema. Das Erarbeitete wird anhand von Zeichnungen, Collagen und Fotos in einem persönlichen Atlas zusammengetragen. Die Ergebnisse werden präsentiert und gemeinsam besprochen. Der „Mini-Atlas“ kann am Ende nach Hause mitgenommen werden.
In Zusammenarbeit mit dem Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Teilnahme kostenlos
Sonntag, 22. Juli 2018 / Montag, 23. Juli 2018 / Freitag, 27. Juli 2018 / Samstag, 28. Juli 2018
jeweils 14.30 - 18:00 Uhr
Eine Anmeldung ist erwünscht unter bethanien1[at]kunstraumkreuzberg.de
Common Things: Ganz Gewöhnliche Dinge
Die technologischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und die Dominanz zeitgenössischer Ideologien und ihre Folgen haben die Welt, in der wir leben, nachhaltig geprägt. Unter dem Primat von Effizienz, Wettbewerb und Wachstumsoptimierung wird unsere Realität immer virtueller und schnelllebiger. Einem Maximum an Flexibilität und Fragmentierung stehen ein Minimum an Verantwortung und Verlässlichkeit gegenüber. Mit weitreichenden Folgen für uns als Individuen und unsere Identität: Entfremdung und Isolation hinterlassen ihre Spuren in unserer Seele, unserer Psyche– und nicht zuletzt in unseren Körpern.
Die Ausstellung stellt die Idee der Commons vor, einer gar nicht so neuen Idee von Gemeinschaftlichkeit, die vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen neue Aktualität erhält. Es handelt sich um ein Modell, das sich erlaubt, sich von der Alternativlosigkeit zeitgenössischer Logik zu emanzipieren und eigene Prioritäten zu entwickeln.
Der Workshop versteht sich als dynamischer Prozess zwischen Ausstellung und Atelier, der – ganz im Sinne von Commoning – durch gemeinschaftliches Arbeiten entsteht. Gleichzeitig wird Commoning als Form gemeinschaftlichen Schaffens zum Gegenstand der Erforschung. Es geht um die Geschichten, die die Ausstellung erzählt, und um die Wünsche, Utopien und Bilder, die sie hervorrufen. Die Arbeitsweise verweigert sich jeder Art von Wettbewerb. Sie orientiert sich an Vorstellungen von Entschleunigung – Denken in Zusammenhängen, Zuständen von Gleichgewicht und Möglichkeiten der menschlichen Begegnung. Installationen, Performances, Material und Bewegung sind Experimente, den eigenen Körper in Bezug zum Raum zu setzen – und damit zu allem, was sich in diesem Raum befindet.
Für das Projekt freuen wir uns auf Teilnehmer*innen, die sich gerne an der Erarbeitung eines gemeinschaftlichen Wissenspools beteiligen, dabei aber auch gerne „ihr Ding machen“.
Öffentliche Präsentation der Ergebnisse: Fr, 17. August um 16:00 Uhr
Kunstvermittlerin: Lilian Scholtes / In Zusammenarbeit mit dem Kunstraum Kreuzberg/Bethanien
Um Anmeldung wird gebeten: bethanien1@kunstraumkreuzberg.de
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An Atlas of Commoning ist eine Ausstellung des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) in Zusammenarbeit mit ARCH+ Zeitschrift für Architektur und Urbanismus. Die Ausstellung wird in Berlin in Kooperation mit dem Kunstraum Kreuzberg/Bethanien präsentiert.
Verantwortung:
Ronald Grätz
Planung und Organisation:
Sabina Klemm
Technische Realisierung:
Martin Edelmann, Manuel Reinartz
Ausstellungsarchitektur:
Stadelmann Schmutz Wössner Architekten, Berlin
Ausstellungsgrafik:
Heimann + Schwantes, Berlin
Wir danken allen Initiativen, Architekt*innen, Planer*innen und Akteur*innen, die uns mit Informationen, Material und Austausch zum Thema unterstützt haben.
© Institut für Auslandsbeziehungen e. V. (ifa), Stuttgart, Deutschland; ARCH+; Künstler*innen; Autor*innen
ifa – Institut für Auslandsbeziehungen
Das ifa ist die älteste deutsche Mittlerorganisation und feierte 2017 sein 100-jähriges Bestehen. Es engagiert sich weltweit für ein friedliches und bereicherndes Zusammenleben von Menschen und Kulturen. Seine Programme verfolgen fünf Kernthemen: Kunst- & Kulturaustausch, Dialog der Zivilgesellschaften, Flucht & Migration, Kultur & Konflikt und Europa. Das ifa fördert den Kunst- und Kulturaustausch in Ausstellungs-, Dialog- und Konferenzprogrammen und agiert als Kompetenzzentrum der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik, ist weltweit vernetzt und setzt auf langfristige, partnerschaftliche Zusammenarbeit. Es wird gefördert vom Auswärtigen Amt, dem Land Baden-Württemberg und der Landeshauptstadt Stuttgart. www.ifa.de
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