Urbane Praxis

Urbane Praxis verbindet konkrete planerische Ansätze mit künstlerischem Handeln. Im Gespräch mit Alex Nehmer diskutieren Markus Bader und Christof Mayer von raumlabor, die Planerin Renée Tribble und die Stadtforscherin Kathrin Wildner über die Anfänge der Praxis und ihren Zugang zur Stadt.

Etwa ein Drittel der bebauten Fläche Roms entstand informell, zumeist ohne Genehmigung und mit unzureichender Anbindung an die städtische Infrastruktur. Diese Entwicklung über Jahrzehnte hinweg sieht der römische Architekturprofessor Carlo Cellamare ambivalent, da sie nicht zuletzt auf römische Laxheiten zurückzuführen ist: „Viele denken, dass Selbstorganisation eine Lösung für die Probleme der Stadtregierung und des Stadtgebiets darstellt. Wenn das tatsächlich so wäre, könnte es auf der einen Seite eine Möglichkeit für die Mitwirkung der Bewohner bei der Gestaltung des Gemeinwesens sein, eine Öffnung hin zu Selbstbestimmung und Demokratisierung von Entscheidungsprozessen. Auf der anderen Seite entspringt Selbstorganisation aber häufig der Unfähigkeit der öffentlichen Verwaltung, Probleme anzugehen.“¹

Die Oasen von Ostiense sind hinter den unzähligen Ablenkungen dieses mittlerweile angesagten ehemaligen Arbeiterviertels im Süden Roms verborgen. Um die Zugänge zu finden, muss man sich an den Tischen der schicken Restaurants und Lokale vorbeischlängeln und nach den verstreuten Erinnerungsquellen suchen. Man muss deren Hüter*innen kennen, sie geduldig befragen und ihnen zuhören.

Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es, das MAAM – das Museo dell’ Altro e dell’ Altrove di Metropoliz (Museum des Anderen und des Anderswo Metropoliz) – präzise zu beschreiben. Der Anthropologe Marc Augé bezeichnete es nach einem Besuch im Jahr 2016 als „Überort“. An der historischen Via Prenestina, am östlichen Stadtrand Roms, wurde 2009 das Gelände einer ehemaligen Wurstfabrik von Aktivist*innen besetzt, um wohnungslose Migrant*innen unterzubringen. Diejenigen, die auf diesem Ruinengelände Zuflucht fanden, tauften es „Metropoliz“. Doch Metropoliz ist weit mehr als nur eine besetzte Fabrik – es fungiert wie ein Wurmloch, das die höchsten und niedrigsten Ausdrucksformen des urbanen Lebens kurzschließt: das Museum und den Slum.

Aktuell steht das „Museum des Anderen und des Anderswo Metropoliz“ (MAAM), eine von Migrant*innen aus unterschiedlichsten Weltgegenden besetzte und bewohnte ehemalige Wurstfabrik an der Peripherie von Rom, vor einer neuen Herausforderung: Das Museum soll nach Jahren der Duldung legalisiert werden, auf dem Grundstück sind zusätzliche Sozialwohnungen geplant. Später, so heißt es, soll ein Teil der entstehenden Wohnungen für die jetzigen Bewohner*innen des MAAM reserviert sein.

Kartierungen haben sich als kritische Werkzeuge bewährt. Sie können räumliche Zusammenhänge und Prozesse sichtbar machen, aber auch Netzwerke von Akteur*innen oder andere abstrakte Systeme erfassen. Kartierungen zur Offenlegung von Netzwerken entstehen oft in kollektiver Arbeit, um gemeinsame Einsichten und Herangehensweisen zu entwickeln.

Kann Urbane Praxis Räume der Teilhabe schaffen? Mitglieder des Kollektivs raumlabor, darunter Benjamin Foerster-Baldenius, Frauke Gerstenberg und Christof Mayer, sowie die Architekt*innen Jesko Fezer und Gabu Heindl diskutieren im Gespräch mit Alex Nehmer die Möglichkeiten von Gestalter*innen, Menschen zu aktivieren und deren Handlungsmacht zu stärken.

Morgens im Bus. Alle stehen dicht gedrängt und beugen ihre Köpfe über die Bildschirme in ihrer Hand. Ich vermute, die Szene würde sich kaum ändern, wenn man den Bus genommen und auf irgendeine Straße einer beliebigen europäischen Großstadt versetzt hätte. Die Pendler*innen würden wohl dieselbe Haltung einnehmen und dieselbe Einförmigkeit der urbanen Bewegungsmuster erleben, egal in welcher hypermodernen Stadt.

An einem Samstag im Juli 2024 fährt ein vollbesetzter Doppeldeckerbus, Baujahr 1977, mit offenem Verdeck durch Wohn- und Gewerbegebiete in Berlin-Lichtenberg. Die Menschen an Bord haben sich für Constellations – Die Bustour angemeldet, die sie zu verschiedenen, nicht mehr existierenden queeren Orten führt. Noch 20 Minuten bis zum nächsten Stopp.

Justus Henze vom unabhängigen Thinktank communia sowie Sophie Dilg und Hannah Berner von der Initiative Sorge ins ParkCenter diskutieren im Gespräch mit Markus Krieger und Alex Nehmer darüber, wie wir Städte so gestalten können, dass alle gut versorgt sind und vom kollektiven Wohlstand profitieren.

Anfang der 1970er-Jahre befand sich Sydney inmitten eines Baubooms. Bauarbeiter*innen wurden dringend benötigt, doch ihre Arbeitsbedingungen waren prekär: Sie wurden schlecht bezahlt und oft nur für wenige Tage angeheuert. Aufgrund mangelnder Arbeitsschutzvorschriften kam es häufig zu Unfällen, teils mit tödlichem Ausgang. Um ihre Situation zu verbessern, organisierte sich ein Großteil der Bauarbeiter*innen in Sydney in der New South Wales Builders Labourers’ Federation (NSW BLF), dem lokalen Zweig der führenden Baugewerkschaft in Australien.

Im Gespräch mit Daniel Kuhnert und Alex Nehmer diskutieren die raumlabor-Mitglieder Francesco Apuzzo, Jan Liesegang und Axel Timm mit den Urbanen Praktiker*innen Jeanne Astrup-Chauvaux von ufoufo und Collectif Trouble sowie Łukasz Lendziński von Studio umschichten über die Potenziale der Intervention als Methode der Urbanen Praxis.

Mitte Juni 2023, unter der brennenden Mittagssonne, herrscht auf der ohnehin immer hitzigen Sonnenallee in Berlin-Neukölln das übliche hektische Treiben. In der Nähe des Hermannplatzes drängeln sich Fußgänger*innen, Autos hupen, und der Bus der Linie M41 steht im Stau. Radfahrer*innen kämpfen sich durch das Chaos. Englische Wortfetzen mischen sich mit arabischen, türkischen und deutschen, und die Gerüche eines syrischen Shawarmagrills verschmelzen mit denen der benachbarten Shishabar.

München ist eine der am stärksten versiegelten Städte Deutschlands: Fast die Hälfte ihrer Fläche ist bebaut, asphaltiert oder anderweitig geschlossen. Dadurch kann Regen nicht versickern, Grundwasservorräte schrumpfen, Wasser kann nicht verdunsten, Pflanzen finden kaum Raum. Einer der Hauptgründe für diese Versiegelung ist der motorisierte Individualverkehr. Jahrzehntelang orientierte sich die Stadtplanung an dessen Bedürfnissen und folgte dem Konzept der autogerechten Stadt, bei dem der ungehinderte Verkehrsfluss des Automobils oberste Priorität hatte.

„Jeden Sommer träumt die Stadtbevölkerung vom mediterranen Lebensgefühl, von der lauschigen Piazza, vom Verweilen zwischen Brunnen, Bänken und üppigen Bäumen“, so Giorgio Scherrer in der Neuen Zürcher Zeitung am 23. Juli dieses Jahres.¹ Er spricht über missratene Plätze, aber das von ihm angesprochene Missverständnis ist ein generelles und betrifft viele Städte: Der Diskurs über urbane Räume wird von den kulturellen Vorstellungen einer wohlhabenden Schicht dominiert, die ein romantisiertes Bild von Urbanität hat.

Stadtentwicklung ist oft von unsichtbarer staatlicher Gewalt geprägt, argumentiert der Architekt Feda Wardak. Mit Alex Nehmer spricht er über seine Praxis, diese mit den Mitteln der Kunst sichtbar zu machen und ihr entgegenzuwirken.

Highland Park, eine eigenständige Stadtenklave innerhalb des Stadtgebiets von Detroit, war einst ein bedeutendes Zentrum der amerikanischen Automobilindustrie. 1908 eröffnete Henry Ford hier die weltweit erste Automobilfabrik mit Fließbandfertigung, gebaut nach Entwürfen von Albert Kahn. Auch die 1925 in Highland Park gegründete Chrysler Corporation betrieb hier über 70 Jahre lang ihr Hauptwerk. Die Stadt gehörte aufgrund der sprudelnden Steuereinnahmen zu den reichsten Kommunen der Region.

Angesichts der rapide voranschreitenden Ressourcenknappheit ist „Reuse“ zu einem der zentralen Themen der Nachhaltigkeit in Stadtplanung und Architektur geworden. Im Jahr 2018 machten Bau- und Abbruchabfälle fast 36 Prozent, also rund 813 Millionen Tonnen des Abfallaufkommens in der EU aus (EU: 2.277 Millionen Tonnen).¹ In den USA waren es im selben Jahr rund 600 Millionen Tonnen.² In der Türkei sind entsprechende Statistiken nicht verfügbar, da der Staat dieses Thema weitgehend ignoriert.

Markus Bader, Frauke Gerstenberg und Andrea Hofmann von raumlabor diskutieren mit der Aachener Stadtbaurätin Frauke Burgdorff und der Urbanen Praktikerin Leona Lynen in einem Gespräch mit Alex Nehmer über die Rahmenbedingungen zur Verstetigung Urbaner Praxis – und wie diese verändert werden können.

Berlin wächst und mit dem Wachstum nehmen auch die urbanen Herausforderungen zu. Gentrifizierung, Verdrängung, explodierende Miet- und Immobilienpreise verschärfen soziale Ungleichheit. Öffentliche Infrastrukturen sind unterfinanziert; der Mangel an bezahlbarem Wohnraum und nicht-kommerziellen Orten der Zusammenkunft setzt die Stadtgesellschaft unter Druck. Zwar sind brachliegende Flächen weiterhin vorhanden, doch der Zugang dazu ist oft schwer. Kunst- und Kulturschaffende fragen sich, wie sie diese Raumressourcen aktivieren, gerechter verteilen und kreativ bespielen können. Wie können sie mit künstlerischen Mitteln die Stadt verteidigen, Stadträume umgestalten oder experimentelle Formen des Gemeinwesens erproben?

Im Jahr 2012 bezog das neu gegründete Zentrum für Kunst und Urbanistik (ZK/U) zwei aneinandergrenzende Backsteinhallen eines ehemaligen Güterbahnhofs der Deutschen Bahn im Berliner Stadtteil Moabit. Seitdem betreibt die vom Künstlerkollektiv KUNSTrePUBLIK geführte, unabhängige Institution dort Residencys für Künstler*innen und Forschende, die in einem außerakademischen Rahmen zu stadtpolitischen Themen arbeiten.

Die zunehmende Komplexität macht Politik heute oft schwer durchschaubar. Für viele Bürger*innen wird es immer schwieriger, politische Entwicklungen und Entscheidungen zu verstehen, was die demokratische Teilhabe einschränkt und zu einer Entfremdung von politischen Prozessen führen kann. Besonders in urbanen Räumen spüren Menschen die direkten Auswirkungen von Entscheidungen – sei es durch steigende Mieten oder den Abbau öffentlicher Infrastrukturen –, können aber nur selten aktiv mitbestimmen. Selbst die vorhandenen Möglichkeiten, darauf Einfluss zu nehmen, sind oft mit hohen Barrieren verbunden. Marginalisierte Gruppen sind hiervon in besonders schwerer Weise betroffen. Zugangsbarrieren abzubauen und politische Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, ist das Ziel, das das Center for Urban Pedagogy (CUP) seit fast drei Jahrzehnten auf der Ebene der Urbanen Praxis verfolgt.

Die sozialen und raumpolitischen Herausforderungen der zeitgenössischen Stadt stellen herkömmliche Methoden der Raumproduktion grundlegend infrage. Wenn nur wenige von den Ressourcen, Zugängen und Möglichkeiten urbaner Räume profitieren, wenn Räume und Ressourcen systematisch und ohne Rücksicht auf die langfristigen Auswirkungen oder die Bedürfnisse lokaler Gemeinschaften ausgebeutet werden und öffentliche Räume zunehmend von Konsumzwang geprägt sind, muss man die vorherrschenden Stadtentwicklungspraktiken und Machtstrukturen überdenken.

Die postkolonialen Gesellschaften des Globalen Südens, für die Kolumbien hier beispielhaft steht, sind von enormer Ungleichheit geprägt. Während eine kleine Elite über Reichtum und politische Macht verfügt, kämpft die Mehrheit der Bevölkerung Tag für Tag ums Überleben. Diese Kluft manifestiert sich im Stadtbild: Gated Communities, luxuriöse Wohntürme und imposante Regierungsviertel stehen wie Inseln in einem Meer von selbstgebauten und sich selbst überlassenen Siedlungen, die sich an den Stadträndern, Berghängen und auf anderen unattraktiven Flächen ausbreiten. In diesen informellen Siedlungen – bekannt als Barrios Populares, Slums oder Favelas – herrschen oftmals prekäre Wohn- und Lebensbedingungen. Überbelegte Behausungen, fehlende Sanitär- und Gesundheitsversorgung sowie mangelnde Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten prägen den Alltag. Die Abwesenheit des Staates verstärkt nicht nur die Ungleichheit, sondern auch die Kriminalität. Doch sie schafft auch Raum für Solidarität und gemeinschaftliches Engagement innerhalb der Communities.