Nikolaus Kuhnert: Eine architektonische Selbstbiografie

Als Anfang der 1990er-­Jahre der Berliner Architekturstreit ausbrach, als gläserne Architektur per se demokratisch und steinerne Architektur vice versa undemokratisch sein sollte, war das selbst für schlichtere Gemüter umgehend als ausgemachter Unsinn zu erkennen. Denn wie jeder weiß, sind Baumaterialien in statu nascendi zunächst einmal gänzlich „unschuldig“.

Mit der Ausgabe Rechte Räume haben die ARCH+, Stephan Trüby und das Institut für Grundlagen moderner Architektur und Entwerfen (IGmA) der Universität Stuttgart den Nerv der Zeit getroffen.

Das Bauhausjubiläumsjahr 2019, in das – zufällig oder nicht – auch die Veröffentlichung der ARCH+ 235 Rechte Räume fiel, darf als willkommener Anlass gelten, an die Zeit um den Untergang des Kaiserreichs vor rund hundert Jahren zu erinnern. Damals wie heute wurde die Heimat ins Blickfeld gerückt, nationales und autoritäres Denken konkurrierten mit internationalem und liberalem. Für die Architektur jenseits von Historismus und Jugendstil suchten damals zwei konkurrierende Ausbildungsstätten nach dem richtigen Weg zur Erneuerung: das Weimarer Bauhaus und die Stuttgarter Schule.

In seiner im ARCH+-Heft Rechte Räume wieder­abgedruckten Sammel­rezension „Hans Poelzig, Paul Bonatz, Paul Schmitthenner – Die allmähliche Aufwertung, Normalisierung und Rehabilitierung der Konservativen, Opportunisten und NS-Mittäter“, die ursprünglich vor acht Jahren in italienischer Sprache in Casabella Nr. 808 erschien, erweckt Winfried Nerdinger den Eindruck, in Deutschland sei eine Gruppe von Architekturhistorikern damit beschäftigt, Architekten der offiziellen Nazi-Architektur zu rehabilitieren und dabei die Geschichte „in jüngster Zeit immer schamloser“ zu verfälschen.

Beim ARCH+-Heft Rechte Räume ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Der Architekturdiskurs sollte gegen rechtsextreme Positionen aufgerüstet werden, mit den Mitteln von Ideologisierung, Polarisierung und Zuspitzung. Ein inakzeptabler Zug dabei ist die Unkultur des Angriffs auf Kollegen, die mit den rechten Milieus, die in diesem Heft aufs Korn genommen werden, nichts zu tun haben. Für eine Zeitschrift wie ARCH+, die sich selbst auf oberer Flughöhe des Fach­journalismus sieht, ist das unverzeihlich.

Hätte Wolfgang Pehnt den Titel meiner Rezension genauer gelesen, dann wüsste er, dass es in meiner in der ARCH+ 235 Rechte Räume erstmalig auf Deutsch erschienenen Sammelbesprechung „Hans Poelzig, Paul Bonatz, Paul Schmitthenner – Die allmähliche Auf­wertung, Normalisierung und Rehabilitierung der Konservativen, Opportunisten und NS-Mittäter“  (2011) um die allmähliche „Aufwertung“ konservativer Architekten (Poelzig), um die „Normalisierung“ von Opportunisten (Bonatz) und die „Rehabilitierung“ eines Mittäters in der NS-Zeit (Schmitthenner) geht. Dabei wird nicht irgendein „Eindruck“ erweckt, wie Pehnt suggeriert, sondern es werden Fakten benannt.

Die Werke, Karrieren und Netzwerke „national-modernistischer“ Architekten wie Paul Bonatz und Paul Schmitthenner in der Weimarer Republik, in der Zeit des National­sozialismus und in der Wiederaufbau-BRD sind so schillernd wie erfolgreich.

Eine solche Architektur­debatte hat es in Deutschland noch nicht gegeben. Die Reaktionen auf den Beitrag „Wir haben das Haus am rechten Fleck“ von Stephan Trüby in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) vom 8. April 2018, die nach der Ende Mai 2019 erschienenen ARCH+ 235 Rechte Räume einen weiteren Höhepunkt erreichten, sind in der bundes­deutschen Geschichte einmalig und lassen sich auch nicht mit dem Berliner Architekturstreit der frühen 1990er-Jahre vergleichen.

Geschichte ist kein Freifahrtschein! Und: Geschichtlichkeiten sind nicht einfach zu negieren, ebenso wenig wie sie zu konstruieren sind!

Europaweit lässt sich beobachten, dass nationalistisch-autoritäre Positionen in den Mainstream aufgerückt sind. Der Rechtsruck geht einher mit tiefgreifenden Prozessen der Entdemokratisierung und Entsolidarisierung, die schwer wieder rückgängig zu machen sein werden.

Die neu aufgeflammte Diskussion um den Walter-Benjamin-Platz in Berlin rankt sich nicht nur um die architektonischen Anleihen der Leibniz-Kolonnaden beim italienischen Faschismus, sondern auch um die anonyme Inschrift mit den kryptisch anmutenden Versen, die, wie unlängst bekannt wurde, „Canto XLV“ von Ezra Pound einleiten: „Bei Usura hat keiner ein Haus von gutem Werkstein / die Quadern wohlbehauen, fugenrecht, / daß die Stirnfläche sich zum Muster gliedert.“

Bisher haben sich Germanist*innen vor allem auf die Rhetorik der Neuen Rechten konzentriert. Jetzt – wie Tina Hartmann in der ARCH+ 235 Rechte Räume – auch literarische Texte in den Blick zu nehmen, leuchtet mir sehr ein.

Viele der Reaktionen auf die ARCH+ 235 Rechte Räume stehen sympto­matisch für die Vorstellung einer „Architektur ohne Gesellschaft“.^[1]