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MISSING LINK Strategien einer Architekt*innengruppe aus Wien (1970–1980)

MAK – Museum für angewandte Kunst 11.5. bis 2.10.2022
Eine Ausstellungsrezension von Nora Dünser

Ein Architekt, der nicht baut, ist kein Architekt. Dieses angestaubte Paradigma ist längst überholt, nicht zuletzt aufgrund des Zutuns einer Generation um 1968, die sich der Enge des traditionellen Verständnisses der Profession zu entkommen suchte, indem sie ihre Verantwortung über das bloße Errichten von Gebäuden ausweitete. Soziale, politische und kulturelle Verantwortung, vor allem aber auch ökologische Verantwortung waren von nun an maßgebend. Denn Architektur ist und kann mehr, da war sich diese Generation sicher.

In diesem Geist hat sich das österreichische Kollektiv Missing Link zehn Jahre lang an der Architektur und Architekturprofession abgearbeitet, hat die Disziplin immer wieder befragt, mit ihr experimentiert und sie neu austariert. Die 1970 von den drei Architekturstudierenden Angela Hareiter, Otto Kapfinger und Adolf Krischanitz an der Technischen Hochschule Wien gegründete Gruppe war unzufrieden mit der um sich selbst kreisenden Lehre, die ihnen dort angeboten wurde. Das Trio wollte die Architektur aus ihrem Elfenbeinturm befreien, um sie mit der echten Welt zu verzahnen. Sie suchten nach dem „Missing Link“, dem fehlenden Bindeglied zwischen Mensch, Raum, Architektur, Stadt, Umwelt, Kunst, Politik, Medien, Gesellschaft: „Missing Link is present where essential factors are overlooked.“

Seit 2014 ist der Vorlass des Kollektivs peu à peu in die Sammlung des Museums für angewandte Kunst (MAK) in Wien übergegangen und wird dort nun in einer umfangreichen, vom MAK-Kustoden Sebastian Hackenschmidt kuratierten Ausstellung gezeigt. Zeichnungen und Collagen stehen in einer Reihe mit Objekten, Malereien, dokumentierten Performances, Fernsehproduktionen, Publikationen, Plakaten, Fotografien, stadtsoziologischen Studien und urbanistischen Situationsanalysen. Es ist ein Reigen der künstlerischen Ausdrucksformen, der um Werke von lokalen wie internationalen Zeitgenossen ergänzt wird. Geordnet sind die Exponate in fünf Ausstellungsbereiche, die der Arbeit von Missing Link von ihren Anfängen bis zur Auflösung 1980 chronologisch folgt.

Da ist die pneumatische Architektur Goldenes Wienerherz (1970), eine Entwurfsarbeit auf Papier, die den Tenor jener avantgardistischen Positionen anschlägt, die auf das zunehmend von Konsum, Technologie, Medien und Mobilität geprägte Leben mit mobilen, flexiblen, technisch ausgestatteten Raumeinheiten antworteten, die sich wiederum in eine ihnen übergeordnete Megastruktur eingliedern. Goldenes Wienerherz entstand noch im Studienkontext und war Missing Links Vorschlag eines temporär im öffentlichen Raum installierten Begegnungsraums – eine ephemere, von allen benutzbare Architektur, die den weiteren Fortgang der Gruppe bereits andeutete. Denn Missing Link beschäftigte sich zunächst gar nicht so sehr mit dem Bauen an sich, sondern entwickelte künstlerische Aktionen und Performances, in denen sie sich kritisch mit dem verschwenderischen Umgang mit fossilen Ressourcen und Beton sowie der Entfremdung des Menschen von seiner natürlichen Umwelt auseinandersetzten. In der fotografisch festgehaltenen Aktion Treffen auf dem Feld (1972) etwa finden sich Alltagsgegenstände wie Sonnenbrille, Handschuhe, Zeitungen oder eine Puderdose in teils absurden Situationen wieder. Es sind simple Arrangements, die aber die komplexe Infragestellung des menschlichen Verhaltens mit diesen Objekten und letztlich der gesellschaftlichen Normen und Konventionen in sich tragen. Denn wer sagt, wann und wie ein Handschuh benutzt wird? Nicht weniger experimentell ging es in ihrem 30-minütigen Fernsehfilm Die verstoßene Stadt (1974) zu, der für den Österreichischen Rundfunk (ORF) entstand und dort zur Primetime ausgestrahlt wurde. Es ist die Geschichte eines jungen Paares in Wien – er Taxifahrer, sie Sekretärin –, die von heute auf morgen ihre Wohnung verlieren und sich eine Stiegenanlage und ihr Auto als neuen Wohnraum aneignen. Die amüsanten Dialoge werden von Interviews mit zwei wichtigen Mentoren der Gruppe, dem Architekten Karl Schwanzer und dem Museumsdirektor Alfred Schmeller, über zeitgenössischen Städtebau unterbrochen und gipfeln in einer Aufführung von Richard Wagners Lohengrin am Donaukanal. Die Stadt, die Straße und der öffentliche Raum sind auch die Themen von Missing Links detailreichen städtebaulichen Studien wie Via Trivialis (1973) zur verkehrsreichen Kreuzung Gumpendorfer Straße / Gürtel in Wien, deren Mittelpunkt eine von Otto Wagner entworfene und vom Abriss bedrohte Haltestelle der Stadtbahn bildet. Das Kollektiv argumentiert in Zeichnungen, Fotografien und Texten, wie Verkehrsraum durch schlichte Eingriffe zu Lebensraum werden kann und spricht sich für ein produktives Nebeneinander der beiden Sphären aus – ein Thema, das junge Gruppierungen heute im Kontext der Diskussion um Aneignung und Zwischennutzung wieder beschäftigt. Der künstlerischen Herangehensweise an Architektur bleibt Missing Link auch in den folgenden Jahren treu, in beeindruckenden großformatigen Gouachen und Zeichnungen, in denen abstrakte Landschaften, popkulturelle Zitate sowie Medienkritik zu finden sind. Doch bei Krischanitz und Kapfinger – Angela Hareiter steigt 1974 aus der Gruppe aus – wird das Interesse an einer eigenen Planungspraxis lauter. Statt einfach zu entwerfen, führen sie zunächst architekturhistorische Untersuchungen, die sogenannten Wiener Studien (1978), durch, in denen sie den sozialen Wohnungsbau der Stadt in seine Einzelteile, in Grundrisse, Ecklösungen, Türen, Innenhöfe und Geschäftseingänge sezieren. Warum? „Sie [die Studie] ist ein gezeichneter Bericht von der Notwendigkeit, ein aufgelassenes Geschäft durch die Hintertür zu betreten, um in den vorgefundenen Regalen des Vergangenen nach der vergessenen Zukunft zu stöbern. Sie ist weiters ein Versuch, durch zeichnerische Analyse und durch weiterführende Formulierung einer verdrängten Tradition zum gegenwärtigen Selbstverständnis unserer Position zu finden.“ Es sind die Kultur und (Architektur-)Geschichte der österreichischen Hauptstadt, aus denen die Gruppe ihre Ideen und Formen schöpft und denen sie auch nach der gemeinsamen Zeit als Missing Link verbunden bleiben. Adolf Krischanitz als schließlich bauender und damit sehr erfolgreich werdender Architekt, Otto Kapfinger als einer der führenden Architekturkritiker und -forscher des Landes, und Angela Hareiter als renommierte Szenenbildnerin für nationale wie internationale Filmproduktionen.

Was von Missing Link bleibt, ist ein reicher Schatz an bildstarken, technisch wie konzeptionell aufs Feinste herausgearbeiteten Werken. Und vielleicht der leise Appell an eine kommende Generation von Architekt*innen, sich zu trauen, aus bekannten Bahnen des Betriebs auszubrechen, Dinge auszuprobieren, um danach mit Karacho in die Architektur zurückzukehren.

MISSING LINK
STRATEGIEN EINER ARCHITEKT*INNENGRUPPE AUS WIEN (1970–1980)
MAK – Museum für angewandte Kunst
11.5. bis 2.10.2022