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Günther Uhlig bei der Eröffnung des Reenactments der Ausstellung „Siedlerbewegung im ‚Roten Wien‘" (1981) in den Räumen des ARCH+ Space 2016. Foto: Micki Rosi Richter
ARCH+ news

In memoriam Günther Uhlig

Nachruf von Nikolaus Kuhnert

Günther Uhlig habe ich beim Diplom kennen gelernt. Ende der Sechziger Jahre war es an der TU Berlin möglich, das Diplom als Gruppenarbeit zu schreiben. Zu unserer Gruppe gehörten Marc Fester, Günther Uhlig und ich. Um die Diplomarbeit zu beginnen, hatten wir Peter Gäng angesprochen, uns einen Crashkurs in Politischer Kybernetik zu geben. Peter Gäng war ein Schüler von Herbert Stachowiak, der 1965 die Schrift „Denken und Erkennen im kybernetischen Modell“ verfasst hatte.
Trotz des Formats der Gruppenarbeit haben wir unterschiedliche Themen bearbeitet, ich habe in meinem Teil über Amitai Etzioni und Günther über Organisationssoziologie geschrieben.
Unsere Diplomarbeiten wurden im ersten Anlauf nicht anerkannt, nachdem der Berliner Senat einen Staatskommissar an der Architekturfakultät eingesetzt hatte, der das kollektive Diplom untersagte, was uns aber nur indirekt betraf, da wir die Diplomarbeit individuell verfasst hatten. Wir mussten trotzdem die Prüfung wiederholen.
Bevor Günther sein Studium mit der Diplomarbeit abschloss, hatte er bei Georg Heinrichs gearbeitet und, soweit ich mich erinnere, am Steglitzer Forum. Ich erinnere mich jedenfalls noch daran, wie begeistert er von der Deckenkonstruktion über den Rolltreppen ins erste Geschoss sprach.

Assistentenpool
Nach dem Diplom sind wir durch Vermittlung von Wulf Eichstätt, der damals an der RWTH Aachen lehrte, aber zurück nach Berlin kehren wollte, nach Aachen an den Assistentenpool berufen worden – ich sage bewusst berufen, weil die Auswahl der Assistenten einem Berufungsverfahren glich mit Vorstellung und Auswahl. Uns saßen als Juroren Gottfried Böhm und Vertreter der Studentenschaft gegenüber.
Der Assistentenpool war eine lehrstuhlunabhängige, interdisziplinär zusammengesetzte Lehreinheit. Zum Assistentenpool gehörten Zoltan Szankay (Heidegger-Schüler), Dieter Ermert (Ökonom aus Frankfurt), Christian Schmidt und (später auch Adalbert Evers, beide Stadtplaner aus Aachen), Günther Uhlig und ich. Die Aufgabe des Assistentenpools sollte es sein, das Grundstudium in Vorwegnahme des anvisierten Projektstudiums zu reformieren. Begonnen haben wir mit einem Grundkurs, der sich, sicherlich geschuldet der Euphorie der Studentenbewegung, aus Auszügen aus dem „Grundriss zur Kritik der politischen Ökonomie“ von Karl Marx zusammensetzte, um Architektur und Städtebau in den Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung zu stellen. Daran sollten selbstgewählte Projekte anschließen.
Diesen zugebenermaßen euphorischen Anspruch konnten wir nur bedingt einlösen, da unsere Verträge jeweils nach einem Jahr gekündigt und nur auf Druck der Studentenschaft verlängert wurden, bis wir als reguläre Assistenten vom Lehrstuhl für Planungstheorie durch Gerhard Fehl übernommen wurden.
Mit der Übernahme durch den Lehrstuhl für Planungstheorie endete der Assistentenpool und damit auch unsere Funktion, zur Reformierung des Grundstudiums beizutragen. An deren Stelle trat das Lehrdeputat des Lehrstuhls für Planungstheorie, das vornehmlich in der Oberstufe lag. Damit begann für uns eine Zeit der Professionalisierung, die bei Günther zur Entscheidung führte, sich mit der Geschichte der Moderne in politischer Absicht zu beschäftigen. Der Lebensweg des Theoretikers war damit eingeschlagen.

ARCH+
1972 informierte mich Christoph Feldkeller, der zu der Zeit mit Jörg Pampe und Heinrich Stoffl die Stuttgarter Redaktion der ARCH+ bildete, dass sie beabsichtigten, die Redaktion zu erweitern und lud mich nach Stuttgart zur Neukonstituierung der Zeitschrift ein. Ich nahm die Einladung an und fuhr nach Stuttgart. Dort traf ich auf Helga Fassbinder und Klaus Brake aus Berlin, die ebenfalls an der Neukonstituierung der Zeitschrift interessiert waren und diese auf eine neue politische Basis stellen wollten. Da sich bald politische Spannungen abzeichnete, bemühte ich mich meine Position dadurch zu stärken, dass ich Gleichgesinnte in die Redaktion holte, und zwar Günther Uhlig, Marc Fester, Adalbert Evers und Sabine Kraft.
Der sich zuspitzende Konflikt um die politische Ausrichtung der Zeitschrift führte 1975 schließlich zum Bruch mit der Berliner Fraktion, die die Redaktion verließ. Damit waren die Fronten geklärt. Beispielhaft für die Neuausrichtung sei hier die Ausgabe erwähnt, die Günther Uhlig 1979 verantwortete: ARCH+ 45 „Vergessene Reformstrategie zur Wohnungsfrage“.
Die Ausgabe hat ein Thema: Das durch Faschismus und die deutsche Teilung in Vergessenheit geratene sozial-utopische Potential der Moderne. Sie wurde von einer Arbeitsgruppe verantwortet, die sich jedoch nie formell formierte: die Zusammenarbeit zwischen Günther Uhlig und Klaus Novy.
Klaus Novy war ebenfalls Assistent an der RWTH Aachen und hatte seine Dissertation unter dem Titel: „Strategien der Sozialisierung. Die Diskussion um die Wirtschaftsreform in der Weimarer Republik“ herausgebracht. Uhlig wie Novy verband das Interesse, die Moderne von links zu lesen, meint, an ihre in der damaligen deutschen Diskussion ausgeblendeten sozial-utopischen Potentiale anzuknüpfen – und das in einer Zeit, die zunehmend Modernismus kritischer wurde. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Charles Jencks, dessen Buch „The Language of Postmodern Architecture“ ein Jahr vor der genannten ARCH+ Ausgabe auf Deutsch erschien. Gegen diese, mit der Postmoderne sich durchsetzende Ausblendung der sozialen Ursprünge von Architektur und Städtebau betonten sie gerade diese Ursprünge. Beispielhaft hierfür steht der Beitrag von Klaus Novy in besagter Ausgabe: „Der Wiener Gemeindewohnungsbau: ‚Sozialisierung‘ von unten“. Darin beschreibt Novy, wie sich der Gemeindewohnungsbau aus der Siedlerbewegung entwickelte.
Diese Auseinandersetzung mit dem Roten Wien führte nicht nur zu verschiedenen Ausgaben von ARCH+, wie beispielsweise zur Ausgabe ARCH+ 55 „Kampf um Selbsthilfe“ oder ARCH+ 74 „ Schafft zwei, drei, viele kleine Genossenschaften“, sondern auch zur Ausstellung „Siedlerbewegung im ‚Roten Wien‘“ im Jahr 1981, die 2016 in den Räumen des ARCH+Space neu aufgelegt wurde.
Für ARCH+ war diese Zusammenarbeit zwischen Günther Uhlig und Klaus Novy Ende der Siebziger Jahre äußerst prägend. Mit der Frage der „Sozialisierung von unten“, wie es Novy nennt, hatte sich Günther auch in seiner Dissertation auseinandergesetzt. Er hat sie unter dem Titel: „Kollektivmodell Einküchenhaus. Wohnreform und Architekturdebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus“ veröffentlicht, während sich sein Beitrag in ARCH+ 45 vornehmlich mit den Rationalisierungsstrategien des Neuen Bauens in Berlin beschäftigt. Hier war Martin Wagner das Thema, der Berliner Stadtplaner und Stadttheoretiker war Günthers Lebensthema.
Angesichts der heutigen Wohnungskrise ist die Beschäftigung mit den Lösungsstrategien der Moderne, seien es die Rationalisierungsstrategien eines Ernst May oder Martin Wagner, seien es die Sozialisierungsstrategien des Roten Wiens, äußerst lehrreich. Ja man kann sagen, Günther Uhlig hat ein Werk hinterlassen, dessen Studium zeitgemäßer nicht sein kann, gerade weil er die Geschichte der Moderne auf ihre Rationalisierungspotentiale von oben und Sozialisierungspotentiale von unten befragte.

Nikolaus Kuhnert, Berlin im Dezember 2021